Luegenprinzessin
seine guten Seiten.
Joe nahm die drei Wasserflaschen entgegen, die Amelie ihr jetzt hinhielt, und wies Vero an, sich auf die linke Seite zu drehen. Dann begann sie, Veros linkes Auge von der Nase her zu spülen, während sie mit ihrer anderen Hand krampfhaft versuchte, das Auge offen zu halten beziehungsweise es überhaupt mal aufzukriegen. »Ich brauch Hilfe, seht ihr das nicht?«
Endlich erwachte ich aus meiner Schockstarre und rutschte auf Veros andere Seite. Beide Daumen und Zeigefinger benötigte ich, um zwischen ihren Lidern einen schmalen Schlitz herzustellen, in den Joe das Wasser gießen konnte.
Nachher wälzte Vero sich auf die andere Seite und wir wiederholten die Prozedur mit dem rechten Auge.
Die ganze Zeit über weinte sie, es war schrecklich, sie tat mir so leid. »Wer tut so was?«, flüsterte ich immer wieder.
Nachdem die Flaschen leer waren, rutschten die anderen Mädchen zu uns und wir bildeten einen Kreis um Vero.
»Geht’s wieder besser?«, fragte alle paar Minuten irgendeine andere.
Vero schluchzte leise, nickte aber jedes Mal tapfer. Sie hielt uns ihre zitternden Handinnenflächen entgegen. »Die tun so weh, was hab ich da?«, fragte sie ängstlich.
Beide Flächen waren rot und geschwollen. Ich hielt die Taschenlampe näher ran. »Da sind so komische Erhebungen. Nichts Schlimmes«, beruhigte ich Vero schnell. »Ich nehme an, das kommt auch vom Spray.« Die anderen nickten. Besorgt sahen wir uns an. In Wirklichkeit hatte natürlich keine von uns eine Ahnung, wie die Sache für Vero ausgehen würde.
Wenigstens das Zelt war wieder betretbar. Wir führten Vero hinein, die immer noch ihre Augen geschlossen hatte. Als wir alle drinnen um ihren Schlafsack herumsaßen, herrschte für ein paar Minuten betretene Stille. Obwohl sich die Dämpfe des Pfeffersprays größtenteils verflüchtigt hatten, wurde die Luft von Minute zu Minute spürbar dicker. Wer war verantwortlich für das, was gerade passiert war? Diese Frage beherrschte die Stimmung. Vom Zusammenhalt, der mich eben noch positiv überrascht hatte, war nichts mehr zu spüren.
»So eine verfluchte Kacke!« Diana hieb ihre Faust auf den Boden. »Wer zum Teufel war das?« Sie musterte Joe und die Quaks. »Das ist echt kein Scherz mehr, das läuft unter Köperverletzung!«
»Jetzt will ich dir mal was sagen!« Quen klang noch weitaus erboster. »In der Sekunde, da du die kleinste Andeutung fallen lässt, dass ich womöglich etwas damit zu tun habe, steht mein Vater bei deinen Eltern auf der Fußmatte. Mit dem gesamten Landgericht hinter sich. Du willst es nicht wirklich auf eine Verleumdungsklage ankommen lassen, oder?«
»Ist das alles, was du kannst? Drohen?« Dianas Stimme klang nach wie vor selbstsicher und spöttisch, doch sie war eindeutig in die Defensive gegangen. Das konnte man ihr aber wirklich nicht verübeln, denn Quens Vater war ein hohes Tier am Oberlandesgericht und wir wussten alle aus diversen Filmen, dass man da als Normalsterblicher schnell das Nachsehen hatte – ob das nun stimmte oder nicht.
Kinga platzte plötzlich heraus: »Ich finde das so schrecklich! Ich meine, dass jemand von uns zu so etwas fähig ist! Oder – kann es doch ein Fremder gewesen sein? Das Zelt war ja nicht zu, theoretisch könnte sich doch jemand heimlich ins Camp schleichen und… oder?« Hoffnungsvoll sah sie in die Runde. Ich fand es erstaunlich, dass eine Quak richtige Emotionen zeigen konnte, und hätte gerne etwas gesagt, um ihren spontanen Ausbruch zu honorieren, doch der geheimnisvolle Fremde schien mir doch zu sehr an den Haaren herbeigezogen.
»Na ja«, begann ich demnach. »Es könnte ja immerhin sein, dass es niemand von uns war. Vielleicht einer der Jungs… aber wer bloß? Oder jemand aus dem Haus!«
»Norberts Oma?«, fragte Amelie, woraufhin freudloses Gekicher erklang.
»Es ist seine Schwiegermutter«, murmelte ich. »Aber was ist mit Willi?«
Empörte Reaktionen vonseiten der drei Quaks, wie nicht anders zu erwarten gewesen war. Amelie schnaubte am lautesten auf. »Als ob ein Mann wie Willi sich mit solchen Kindereien abgeben würde!«
»Kindereien nennst du das?«, schluchzte Vero. »Ich bin vielleicht blind und für immer entstellt!«
Das brachte uns alle in die Realität zurück. Und die bestand hauptsächlich daraus, dass die Sonne bereits dabei war aufzugehen und wir Vero innerhalb von zwei Stunden wieder vorzeigefertig haben mussten.
»Versuch doch noch mal, die Augen zu öffnen«, bat ich sie. Sie blinzelte.
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