Luegenprinzessin
war die Panik darin hörbar. Reiß dich zusammen, Mia. Ich bot mich ja förmlich auf dem Serviertablett an als superverängstigtes, leicht zu kriegendes Opfer. »Nein«, zischte ich und dann rannte ich, so schnell wie noch nie zuvor in meinem Leben. Jeder meiner Atemzüge hallte in meinen Ohren wider, jeder Schritt ebenso. Ich wusste, bei dem Lärm, den ich verursachte, würde er mich erst recht aufspüren. Ich bekam Seitenstechen und registrierte den viel zu großen Bogen, den ich gerannt war, die schutzbietenden Zelte befanden sich ein ganzes Stück den Hügel hinauf. Ich jedoch war ausgerechnet Richtung Wald gelaufen! Reflexartig drehte ich mich um, einmal, zweimal, nichts… oder doch? Spielte meine Fantasie mir einen Streich oder war das Schlurfen tatsächlich wieder zu hören? Aber aus welcher Richtung? Ich begann, den Hügel hinaufzusprinten. Schneller, Mia, schneller! Je näher ich meinem Ziel kam, desto näher schien auch das schlurfende, schleifende Wesen zu kommen. Ich keuchte vor Anstrengung, hechelte, zehn Meter noch bis zur rettenden Anhöhe, acht, sechs – doch zu spät, das Wesen grapschte bereits nach meinem Fuß, packte ihn. Mein Körper schlug hilflos am Boden auf. Ich krallte meine Finger ins Gras, trat aus und schlug wie wild um mich. Mein Fuß war befreit, ich kämpfte mich in die Höhe, die Fäuste geballt, bereit, mich zu wehren. Mein Blick flog panisch umher. Wo war der Angreifer, wo? Nachdem ich mich dreimal um die eigene Achse gedreht hatte und sicher war, dass sich absolut niemand bei mir befand, bückte ich mich und untersuchte den Boden. Oh Gott, nein. Nein! So was absolut Dämliches konnte nur ich aufführen. Eine unschuldige Wurzel ragte zwischen den Grashalmen hervor. Der böse Fußgrapscher. Was war ich nur für eine peinliche Pute. Kein Wunder, dass alle dachten, ich hätte mich im Klettergarten mit Absicht von Diana rammen lassen, um meinen großen Auftritt als Drama-Queen zu haben. Beziehungsweise meinen großen Abflug. Ich erhob mich und wollte die letzten Meter des Hügels zurücklegen, da fielen mir plötzlich die Geräusche von vorhin wieder ein. Das Kratzen, okay, das war vielleicht wirklich von einem Tier gewesen, aber die Schleifschritte? Und was war das jetzt? Wieder Schritte… ich hastete los, presste die Lippen zusammen, um nicht zu kreischen – und krachte plötzlich gegen einen anderen Körper. Wir kreischten beide. Bis der andere Körper auf einmal in glockenheller Stimme ausstieß: »Mia!«
»Vero?«
»Oh Mia! Mia!« Schon klebte sie an mir und schlang ihre Arme um mich.
»Hast du auch diese schrecklichen Schritte gehört?« Meine Stimme überschlug sich mehrmals. Vor Panik, aber auch vor Erleichterung und sogar Begeisterung, dass da noch jemand anderes war, der sich fürchtete, dass ich also doch nicht total paranoid war.
»Wir müssen ins Zelt, Mia!« Vero packte mich, zerrte mich den Hügel hoch und schleifte mich bis zum Zelt. Wir kletterten durch die erste Plastikschicht, ich fühlte mich gleich viel besser. Aufgeregt flüsterte ich: »Die Schritte, diese schleifenden, die waren wie von dem Buckligen in Tanz der Vampire.«
Sie nickte wie ein Wackeldackel. »Ich weiß! Absolut grässlich. Ich hab gedacht, ich muss sterben, ehrlich.«
»Ich auch!«
Plötzlich begannen wir, hysterisch zu kichern. Die ganze Situation, mitsamt unserem hektischen Geflüster, war so unwirklich und unsere Erleichterung, es ins geschützte Zelt geschafft zu haben, so groß.
Als ich mit noch immer klopfendem Herzen endlich in meinem Schlafsack lag und die Augen schloss, stellte ich mir bewusst die sechs anderen Mädchen vor, zwischen die ich gebettet lag. Hier war ich in Sicherheit.
Doch ich sollte eines Besseren belehrt werden.
5
Ich träumte, dass ich vor einem großen Spiegel stand. In einem aufwendigen, geradezu bombastischen Kleid im Rokoko-Stil. Der Spiegel selbst war genauso pompös wie das Kleid. Erst dachte ich, dass ich in einem Schloss war, überlegte sogar, ob ich hier wohnte, doch dann begriff ich, dass ich hinter einer Theaterbühne stand und auf meinen Auftritt wartete. Ich blinzelte zwischen den dicken Vorhängen durch und erhaschte einen Blick auf die anderen Darsteller. Sie kamen mir vage bekannt vor. Fieberhaft versuchte ich, mir meinen Text in Erinnerung zu rufen oder wenigstens das Stichwort, das meinen Auftritt bedeutete. Doch plötzlich winkten mir die Schauspieler von der Bühne aus zu und jetzt erkannte ich sie. Es waren David und Joe und die Quaks.
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