Luegenprinzessin
Stimme. Bieninger lamentierte die ganze Zeit so herzzerreißend, dass ich immer wieder sagte: »Ist nicht schlimm, ehrlich. Wirklich nicht. Au!«
Der Arzt – er kam eindeutig nicht aus dem nächstgelegenen Krankenhaus, denn er war binnen von Minuten da – gab dann auch Entwarnung. Mittlerweile war ich wieder voll bei Bewusstsein.
»Das tut bestimmt wahnsinnig weh, aber soweit ich sehen kann, sind weder große Sehnen noch Nerven verletzt. Solange du den Arm so gut bewegen kannst, brauchen wir uns deswegen sowieso keine Sorgen zu machen. Nähen müssen wir auch nicht. Die Wunde ist tief, aber nicht groß.«
»Darf ich schwimmen?«, erkundigte ich mich ängstlich.
Mr Bean schlug die Hände zusammen und stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Der Arzt sah mich an, als wolle ich ihn verschaukeln. Mist. »Mit einer tiefen Fleischwunde in den See? Was glaubst du? Außerdem musst du die Schulter schonen, das bedeutet, auch den Arm nicht unnötig bewegen.« Er sah mich misstrauisch an, dann holte er eine Bandage hervor. »Dein Arm kommt jetzt in eine Schlinge, dann wirst du gar nicht erst in Versuchung geführt. Und am Montag gehst du zu deinem Hausarzt, damit er dir einen neuen Verband anlegt, alles klar?« Er holte ein paar Schmerztabletten aus seinem Koffer und trichterte mir die Mindestabstände ein, die zwischen den Einnahmen liegen mussten. Mr Bean nahm ihm sofort die Tabletten ab. »Das läuft über mich. Sonst müssen wir ihr am Ende noch den Magen auspumpen.« Ich hätte sauer reagiert, wenn er mir nicht so leidgetan hätte. Wie ein Häufchen Elend stand er neben der Couch, auf der ich lag, und schüttelte immer wieder den Kopf.
»Glauben Sie mir jetzt, dass es jemand auf uns abgesehen hat?«, fragte ich ihn, nachdem der Arzt sich verabschiedet hatte.
Er rang die Hände. »Was ich glaube, ist, dass jemand unter euch kolossal fahrlässig ist. Wir hatten doch klar und deutlich gesagt, dass nur auf diese vier Zielscheiben geschossen werden darf. Ich muss deine Eltern anrufen, es hilft nichts.«
»Nein«, jammerte ich. »Die machen sich bloß unnötig Sorgen. Sagen Sie mir lieber, dass Sie mir jetzt glauben.«
»Den Unsinn vom Vormittag?« Er verzog das Gesicht. »Ist dein Notfallset wieder aufgetaucht.«
»Nein«, fauchte ich.
Er nickte resigniert und ging zur Tür. »Deine Eltern werden mir ganz schön die Hölle heißmachen.«
Als er zehn Minuten später mit dem Handy am Ohr zurückkam, erkannte ich an seinem leutseligen Grinsen, dass meine Eltern ihm keineswegs die Hölle heißgemacht hatten. Klar, meine Eltern kamen ja auch aus einer Generation, in der man noch Respekt vor den Lehrern hatte, zumindest behaupteten sie das immer.
Mr Bean verabschiedete sich überschwänglich von meinem Vater und gab mir das Handy weiter.
»Hallo Papa!«
»Na, meine Bogenschützin?«
»Du meinst Zielscheibe«, brummte ich.
»Dass so etwas passieren konnte. Hast du nicht aufgepasst?«
Im Hintergrund hörte ich meine Mutter jammern. Mein Vater antwortete ihr irgendetwas, sie wurde laut und schon fingen sie zu streiten an. Ich wartete.
»Deine Mutter meint, ich hab zu wenig Mitleid mit dir. Das stimmt doch gar nicht, oder?«
»Nein, es stimmt nicht. Aber grüß Mama lieb von mir.«
»Mia!« Meine Mutter hatte sich anscheinend das Handy geschnappt. »Mia, geht’s dir auch wirklich gut?«
»Ja, wirklich. Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört.«
»Was genau hat der Arzt gesagt?«
Ich wiederholte den exakten Wortlaut, hatte aber das Gefühl, dass Mama mir nicht wirklich zuhörte, sondern viel zu viel mit Seufzen und Wehklagen zu tun hatte. »Oh Mia, Mia. Miakind«, sagte sie die ganze Zeit.
»Sie ist fast sechzehn!«, hörte ich meinen Papa im Hintergrund. »Fast erwachsen!«
»Denkst du vielleicht, ich weiß nicht, wie alt sie ist?«
»Anscheinend weißt du das wirklich nicht.«
»Hey«, rief ich ins Handy. »Hey, hört ihr mich?«
»Ja!« Jetzt waren sie beide da.
Ich schluckte. »Ich wollte euch nur sagen, dass ich mich auf zu Hause freue. Und Papa? – Ich werde dann endlich dein Buch lesen.«
Als ich kurz darauf in Begleitung von Mr Bean zum Abendessen kam, hefteten sich sämtliche Blicke auf mich.
»Mia!« Vero schoss auf mich zu und drückte mich an sich.
Scharf sog ich die Luft ein. »Autsch.«
»Oh Gott, entschuldige, deine Schulter. Oje.«
»Schon gut.« Ich lächelte tapfer. Dann sagte ich laut: »Mich würde interessieren, wer von euch auf mich geschossen hat.«
Murmeln wurde laut,
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