Luegenprinzessin
vorbei. Ich stellte mich wirklich total an. Einmal im Leben musste ich ein paar Stunden wach bleiben und tat so, als wäre das eine unzumutbare Höchstleistung, die da von mir verlangt wurde. Andere Menschen waren auch müde und durften nicht schlafen. Mia, du bist eine Memme . Um meine fiese innere Stimme zu stoppen, musste ich die Augen schließen. Nur ganz kurz…
Plötzlich hatte ich das Gefühl zu fallen, meine Beine zuckten, ich schlug erschrocken die Augen auf. Nichts. Nur das übliche Muskelzucken, das mich so oft beim Einschlafen begleitete. Trotzdem klopfte mein Herz wieder schneller und plötzlich wurde ich mir der Verantwortung bewusst, die ich innehatte. Das Leben von sechs Mädchen lag womöglich in meinen Händen, sieben inklusive mir.
Auf der anderen Seite des Zelts regte sich etwas. Eine Taschenlampe wurde angeknipst. Mein Herz begann sofort, wieder zu jagen. War es jetzt so weit? Was würde jetzt passieren? Ich konnte nicht sofort erkennen, wer es war, aber bald sah ich Joes schlanke Umrisse. Mit Taschenlampe und Pfefferspray bewaffnet verließ sie auf Zehenspitzen das Zelt. Keine drei Minuten später war sie wieder da. Kinga kroch aus dem Schlafsack. »Ich muss auch noch mal«, murmelte sie.
»Pfefferspray?«, fragte Joe.
»Okay. Danke.«
Ich hörte, wie Joe ihren Schlafsack wieder schloss, und wartete darauf, dass Kinga zurückkam. Ich traute mich kaum zu atmen. Hatte eine der beiden gemerkt, dass ich wach war? Na und wennschon, Mia. Es ist weder verboten, wach zu liegen, noch ist es verboten, aufs Klo zu gehen! Es ist nichts passiert!
Es dauerte nicht lange, dann war auch Kinga zurück. Ein paar Minuten später war es wieder stockdunkel und mucksmäuschenstill. Bis auf das regelmäßige Atmen der Schlafenden. Aus Langeweile versuchte ich, ihren Atemrhythmus aufzunehmen, merkte aber schnell, dass ich dadurch nur noch viel müder wurde.
Gab es irgendeinen Trick, um sich wach zu halten? So was wie Schafezählen, nur eben andersrum, rückwärts? Eine Million. Neunhundertneunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzig. Stimmte das? Ich stellte mir die Zahl numerisch vor, ging ihren Wortlaut ein paar Mal im Kopf durch, gähnte ein-, vielleicht zweimal – und wachte irgendwann vollkommen verwirrt wieder auf. Ich hielt mir die Armbanduhr vor die Augen und fuhr in die Höhe. So ein Mist!
»Diana«, flüsterte ich und pikste meine Freundin, die neben mir lag, in die Seite. »Diana, wach auf.« Sie rührte sich keinen Millimeter. Atmete sie überhaupt? Hilfe! Ich fuhr hoch, kniete mich über sie und packte ihren Oberkörper mit beiden Händen. Gleich darauf zuckte ich zurück. Diana hatte mir eine geklebt.
Jetzt leuchtete sie mir auch noch mit ihrer Taschenlampe ins Gesicht.
»Was ist denn los, Mia?«
»Ich hab gedacht, du bist tot«, flüsterte ich. Diana nahm die Taschenlampe runter und rieb sich die Augen. »Und deswegen musst du mich so erschrecken? Wie spät ist es überhaupt?«
»Gleich halb vier«, antwortete ich kleinlaut.
Sie seufzte ausgiebig. »Du bist eingeschlafen.«
»Nur ein bisschen. Und anscheinend ist ja nichts pa…«, ich stockte kurz, »was ist das?« Ich zeigte auf ihr Kopfkissen. Darin steckte etwas Langes, Dünnes. Diana schnappte sich die Taschenlampe und leuchtete darauf. »Das ist – das ist ein Pfeil!« Ihre Stimme wurde so laut, dass verärgertes Gemurmel von der anderen Seite des Zelts zu hören war.
Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Doch Diana hatte sich schon wieder gefasst und sagte nüchtern: »Den hat jemand reingesteckt. Um diesen Zettel zu fixieren.«
Wir steckten die Köpfe zusammen und entzifferten gleichzeitig die paar Worte, die in Großbuchstaben auf das Stückchen Papier gekritzelt worden waren.
DU BIST TOT
7
Als Bieninger um halb acht seine Weckrunde machte: »Der frühe Vogel fängt den Wurm!«, saßen Vero, Diana und ich mit versteinerten Gesichtern und Ringen unter den Augen auf unseren Schlafsäcken. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich nächtelang nicht mehr geschlafen, fühlte mich schwindlig, fast schwebend und irgendwie unwirklich, doch gleichzeitig kribbelte alles in mir, als hätte ich drei Tassen Kaffee hintereinander getrunken.
Die heftige geflüsterte Debatte der letzten Stunden hatte zu nichts anderem geführt, als erneut einen Keil zwischen uns zu treiben. Weil wir so hilflos waren, absolut machtlos dieser Person gegenüber, die ihren riesengroßen Vorteil daraus zog, dass sie uns alle kannte, während wir immer noch keine
Weitere Kostenlose Bücher