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Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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netten sind so furchtbar einsam, hast du gesagt. Genau wie du, hast du gesagt. Nur dass du nie nett warst und eigentlich auch nicht einsam, mal ehrlich. Nur weil deine Eltern nicht so geklammert haben. Ist doch eigentlich ganz cool. Du weißt eben nicht, wie das ist, wenn man eine Mutter hat, die ständig dein Bestes will, sich deinetwegen abmüht und dabei nichts kapiert. Mütter kapieren nie was, egal, ob sie’s versuchen oder nicht.
    E in klarer Morgen. Marit hat mal wieder schlecht geschlafen und fährt in aller Frühe mit dem Fahrrad zum Strand. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber nach der milden Nacht reicht schon die erste Helligkeit aus, um die Luft rasch zu erwärmen. Sie muss sich beeilen, wenn das Bad in der Elbe die erhoffte Abkühlung bringen soll. Es dürfte wieder brütend heiß werden. Ein perfekter Tag für den Handel mit Speiseeis. Unwillkürlich fragt sie sich, ob die Geschehnisse im Dorf bereits negative Auswirkungen auf das Geschäft haben. Das Gute ist, überlegt sie, dass die Abnehmer ihrer Produkte, hauptsächlich Supermärkte und Restaurantketten, über das ganze Land verteilt sind.
    Ablaufendes Wasser. Der Fluss wirkt müde, geradezu übernächtigt, wie er so steingrau vor ihr liegt und nur ein schwaches Zischeln von sich gibt, als würde er im Halbschlaf reden. Keine Wellen, kaum Strömung.
    Marit braucht nur das Shirtkleid abzustreifen und es zusammen mit dem Handtuch auf den Boden fallen zu lassen. Sie trägt ihren Badeanzug aus dem Sportunterricht. Darin schwimmt es sich schneller als im Bikini. Entschlossen läuft sie über den festen Sand ins Wasser, dass es spritzt. Es wird schnell tief, das ist keine Überraschung.
    Anfangs spürt Marit die Kälte nicht, was seltsam ist. Im Gegenteil, die Elbe kommt ihr mollig und weich vor wie eine leichte Federdecke. Sie krault in ruhigen Zügen, lässt die vergangene Nacht Revue passieren. Stunden banger Schlaflosigkeit: Kaum war sie ins Bett gegangen, da brandeten die Stimmen ihrer Eltern durchs Haus, ein weiterer heftiger Streit. Anscheinend liefen sie dabei auf und ab, verfolgten einander von Zimmer zu Zimmer, denn Türen wurden geschlagen, dazu stampfende Schritte, ab und zu polterte es, einmal zerschellte ein Glas. Was sie sagten, war nicht zu verstehen, kaum ein Wort. Aber die Lautstärke, mit der sie sich anschrien, im Schutz der Dunkelheit noch enthemmter als am Tag, machte Marit Angst. Ein rohes Gefühl. Sie nahm es mit in einen unruhigen Schlaf. Albträume, Albträume. Obwohl sie sich diesmal nicht an Details erinnert, hängen sie ihr immer noch nach. Das muss aufhören, dafür ist sie zu alt, Albträume sind etwas für kleine Kinder. Wann wird sie die Nacht endlich wieder als Freund erleben?
    Morgens war ihr Vater schon aus dem Haus gegangen, und ihre Mutter saß, ohne zu essen, vor einer Schüssel Müsli in der Küche, Ellenbogen auf der Tischplatte, den Kopf in die Hände gestützt. Anstatt die Fragen zu stellen, die wie riesige Sprechblasen über ihren Köpfen zu schweben schienen, flüchtete Marit an den Strand. Und da war sie nun.
    Als sie die grüne Boje erreicht, die den Beginn der Fahrrinne markiert, fühlen sich ihre Arme und Beine auf einmal taub an, bis auf den warmen, inneren Kern der Eingeweide ist sie völlig durchgefroren. Der Fluss hat sie reingelegt, erlaubt sich einen Spaß mit ihr, weil sie es wagt, seine Ruhe zu stören. Eine Andeutung seiner Autorität. Der Weg zurück ans Ufer ein Kampf.
    Als etwas Glitschiges ihr Bein streift – eine Alge, Treibgut, am wahrscheinlichsten aber ein Fisch, womöglich ein Aal –, verliert Marit zuerst ihren Rhythmus, dann die Nerven, nicht nur weil sie Aale verabscheut, diese schleimigen, schlängelnden Wesen, sondern auch weil sie sich der Tiefe unter ihr bewusst wird und der Schwere des eigenen Körpers. Ihre Bewegungen verhaspeln sich. Sie fängt an zu zappeln, um sich zu schlagen, schluckt unweigerlich Wasser, das fischig schmeckt, hustet, spürt, wie ihre Lungenflügel verkrampfen, die Möglichkeit des Ertrinkens. Plötzlich der Sog einer Unterwasserströmung. Um sich herum sieht sie die richtungslosen Wellen, die kleinen Strudel auf der Wasseroberfläche, aufgeworfen vom hektischen Schlagen ihrer Arme, und kapiert endlich ihren Fehler: Nur wer dem Strom vertraut, kann auf seine Gunst hoffen. Wie konnte sie das vergessen? Sein Wasser kann zärtlich und anschmiegsam sein, aber auch unüberwindbar wie eine Mauer. Eine Warnung ihres Schwimmlehrers über das Baden in der

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