Luegensommer
und Marit schreit zurück: »Wenigstens weiß ich, was richtig und was falsch ist. Wenn ich jemandem sage, dass ich ihn liebe, dann meine ich das auch so.«
Sie sollte nicht weiter herumbrüllen. Ihr platzt der Schädel. Marit reibt sich die Schläfen, ertastet eine dicke Beule an ihrem Hinterkopf. Eine Weile herrscht Schweigen. Sie sind beide erschöpft. Jan steuert das Boot auf den Hafen von Glückstadt zu, was vermutlich schlau ist, falls auf der heimischen Elbseite irgendwo die wahnsinnige Ella auf der Lauer liegt. Der Regen wird wieder stärker, das tiefschwarze Wasser unter ihnen ist brackig und riecht nach Meersalz.
»Du musst dich stellen«, sagt Marit.
»Ich weiß.«
»Warum hast du es nicht längst getan?«
»Meine Mutter hat es mir verboten. Sie hatte Angst, dass ich alles zerstöre, was ich mir aufgebaut habe. Sie hat die Journalistin auf dem Gewissen. Das war ich nicht. Ich war bei dir.«
»Ella fuhr den zweiten Wagen?«
Jan nickt. Sie sind fast da. Allmählich sickert das ganze Ausmaß seiner Schuld in Marits Bewusstsein. Zwei Tote, ein falscher Verdächtiger, der unschuldig im Gefängnis sitzt, der Ruf ihrer Familie ruiniert, zumindest angeschlagen. Ganz zu schweigen davon, dass sie ebenfalls um ein Haar draufgegangen wäre. Ella hätte ihrem Sohn lieber rechtzeitig das Lügen verbieten sollen. Dann wäre das Ganze vielleicht niemals passiert.
»Hast du mir Ella auf den Hals gehetzt?«, fragt sie.
»Nein. Ich schwöre es. Ich hab den Rucksack in die Laube gelegt, damit du ihn findest. Als ich nichts mehr von dir gehört habe, bin ich nervös geworden und in die Laube zurückgefahren, und da war mein Notebook aufgeklappt und ein Schuh von dir lag auf dem Boden. Den Rest hab ich mir zusammengereimt. Ich bin rumgefahren und hab euch gesucht, bis ich Mamas Auto am Jachthafen sah.«
Marit blickt an sich hinunter. Jan hat recht, ihr fehlt ein Schuh. Das hat sie nicht bemerkt.
»Was stand in dem Brief an mich? Deine Mutter hat mich leider erwischt, bevor ich ihn lesen konnte.«
Jan wird so leise, dass sie ihn kaum versteht: »Es war ein Abschiedsbrief. Eigentlich wollte ich mich umbringen.«
»Zoé wolltest du nicht umbringen, aber sie ist tot, dich wolltest du umbringen, aber du lebst. Läuft ja vieles schief bei dir«, erwidert Marit.
Jan antwortet nicht. Sie erreichen den Hafen und er vertäut das Boot an einem Kai, gleich neben einem Schild mit der Aufschrift »Anlegen verboten«. Beim Aussteigen will Marit sich nicht von ihm helfen lassen, obgleich sie vor Kälte ihre Beine kaum mehr spürt. Es sind vielleicht zehn Grad Lufttemperatur, doch für Marit fühlt sich das wie Frost an. Unfassbar, dass es gestern noch so heiß war. Unfassbar, dass dieser Albtraum Wirklichkeit ist.
Jan holt sein Handy aus der Jackentasche, ruft die Polizei an, erklärt, wer er ist, was er getan hat und wo er sich aufhält, seine Stimme klingt ganz sachlich, als würde er sich um einen Job bewerben. Der besonnene Jan, wie sie ihn kennt. Anschließend fragt er, ob sie einen Arzt brauche. Marit schüttelt den Kopf.
»Sie schicken einen Wagen«, sagt er. »Wartest du mit mir?«
Marit wüsste nicht, was sie ansonsten tun soll.
Beim Fähranleger steht eine Imbissbude namens »Lucky Town Beachklub«, dorthin gehen sie, um sich aufzuwärmen, doch der Wirt hat bereits Feierabend gemacht, daher bleiben ihnen nur die feuchten Stufen vor dem Eingang zum Sitzen. Egal. Sie sind ohnehin nass bis auf die Knochen. Jan zieht seine Jacke aus und legt sie Marit um die Schultern. Sie gibt sie ihm zurück.
»Ich habe nicht gelogen, als ich gesagt habe, dass ich dich liebe«, beteuert er, als würde ihn das rehabilitieren, und blickt sie im matten Schein der Straßenlaterne erwartungsvoll an. Marit wendet sich ab, sieht zurück auf den Fluss, wo der Lichtstrahl des alten Leuchtturms über dem dunklen Wasser schwebt.
Sie glaubt Jan nicht. Er hat ihre Zukunft gestohlen – und ihre Vergangenheit, die glückliche gemeinsame Zeit. In der Rückschau wirkt nun alles schal.
Als der Polizeiwagen vorfährt, fragt Jan, ob er sie mal anrufen dürfe. Marits Antwort lautet nein.
Epilog
I m Winter, bevor Zoé starb, hatte Ansgar eine Vorahnung. Es war brutal kalt, zehn Grad minus, Eisgang auf der Elbe. Packeis wie am Nordpol. Alle wollten Erinnerungsfotos und knipsten sich gegenseitig, während der Ostwind einem entweder Tränen oder ein seliges Grinsen ins Gesicht trieb, in seinem Fall beides. Als er die Bilder später am Rechner
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