Luegensommer
Franka, worauf Marit lachen muss. Sie weiß, wie peinlich es der Freundin ist, dass ihr Vater ständig Musik hört, die sie selbst gern mag. Franka findet es unangemessen. Marit sieht das nicht so eng.
Inzwischen ist er ausgestiegen und kommt im Anzug auf sie zu, die Krawatte gelockert, in der Hand eine dünne, weiße Plastiktüte, welche vermutlich das Abendessen für die Familie enthält, weil Frankas Mutter die Wärme schlecht verträgt und nichts vorbereitet hat.
»Hey, ihr zwei Grazien. Das sieht ja gemütlich aus.« Frankas Vater beugt sich vor, um seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn zu geben, was diese mit einem gequälten Lächeln über sich ergehen lässt. Als er anschließend Marit zunickt, wirkt er unsicher. »Na, du. Auch mal wieder hier? Wie geht’s denn? Alles klar zu Hause?«
Nichts ist klar, denkt Marit, und das weiß er logischerweise ganz genau, er rattert nur seine üblichen Sprüche herunter. »Bestens«, sagt sie.
»Toll«, erwidert Frankas Vater. In seinen Geheimratsecken glänzen Schweißperlen.
Franka verdreht die Augen. »Sag mal, Paps, merkst du noch was?«
Anstatt zu antworten, wedelt er mit der Tüte. Es gäbe Griechisch zum Abendessen. Er tut, als sei Marit herzlich willkommen, und lädt sie ausdrücklich dazu ein, nur um im nächsten Atemzug beiläufig zu erwähnen, die mitgebrachte Portion könnte zu klein für eine zusätzliche Person sein. Ein schlecht verpackter Rauswurf. Er ist ein Arsch. Sagt Franka ein ums andere Mal und irgendwie hat sie recht. Marit versteht den Wink mit dem Zaunpfahl und geht.
Heimweg. Sie ist mit dem Rad unterwegs, aber sie schiebt. Es ist spät, das Licht wird dünner, die Schatten strecken sich. Feierabendgeräusche: das Klirren von Geschirr und Besteck auf den Terrassen, hier und da Musik, Gelächter, Kinder, die kreischend durch die Gärten toben und kurz vorm Zubettgehen noch mal richtig aufdrehen. Es riecht nach Brennspiritus und Gegrilltem.
Marit weiß noch, wie sie in das Viertel gezogen sind. Sie war gerade vier geworden. Damals waren die rot geklinkerten Einfamilienhäuser und Doppelhaushälften frisch errichtet, überall Baustellen, die Grundstücke sandige Brachen voller Unkraut und Bauschutt, erstklassige Abenteuerspielplätze, auf denen sich, wenn es regnete, riesige Pfützen bildeten. Heute sind die weitläufigen Gärten parkartig angelegt, dicht bewachsen und größtenteils ebenso vorbildlich gepflegt wie die Häuser selbst. Eine bessere Gegend. In den ersten Jahren zogen viele Leute aus der Kreisstadt her, etliche sogar aus Hamburg, auf der Suche nach Ruhe, Sicherheit und erträglichen Grundstückspreisen. Ihre Kinder sollten abseits von den Gefahren und Verlockungen einer Millionenmetropole umgeben von freier Natur sorglos aufwachsen können. Das schien zu gelingen. Sie wurden Marits Spielkameraden.
Und jetzt das. Mord. Das schlimmste aller Verbrechen. Laut Franka geben sich alle hier mit Ansgar als Täter zufrieden. Alle, das ist natürlich Quatsch, alle bestimmt nicht – aber die meisten. Die Leute sind leicht zu durchschauen. Marit will nicht unfair sein, sie unterscheidet sich nicht groß von ihren Nachbarn. Es braucht nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, wie sie empfände, wäre die eigene Familie nicht so schicksalhaft in das unfassbare Geschehen verstrickt. Sie wäre sehr daran interessiert, dass der Spuk so schnell wie möglich vorübergeht. Denn etwas Dunkles hat sich geöffnet, und das auf sicher geglaubtem Territorium, inmitten der Dreißigerzone, und wer zu nah herangeht, fällt womöglich ins Bodenlose. Je schneller ein Schuldiger zur Stelle ist, desto besser, am allerbesten jemand wie Ansgar, jemand, der schon immer ein bisschen anders war und aus dem direkten Umfeld des Opfers stammt. Denn dann hat man nichts mehr damit zu tun, braucht sich nicht länger zu fürchten und kann zur Tagesordnung übergehen, ohne die eigene Wirklichkeit infrage zu stellen. Dann kehrt Ruhe ein, und das ist das Wichtigste hier, geradezu heilig. Wer die Ruhe stört, steht allein da. Franka hat es ihr klargemacht. Ein dummer Zufall, dass es ausgerechnet sie getroffen hat.
Wie zur Bestätigung ihrer Schlussfolgerungen joggt Herr Panten von schräg gegenüber grußlos auf der anderen Straßenseite vorbei, die Bewegungen steif in der Absicht, Blickkontakt zu vermeiden. Marit macht es ihm leicht und starrt auf das glatte Pflaster zu ihren Füßen. Kritzeleien aus Malkreide: eine Sonne, eine Blume, Himmel und Hölle.
Verständnis hin
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