Luegensommer
seiner Flucht dürfte das kein Problem sein.«
»Wer sagt, dass er geflohen ist?«
»Wonach sieht es denn Ihrer Meinung nach aus?«, erwidert die Polizistin.
»Als wäre ihm alles zu viel geworden. Und das kann ich gut verstehen. Mir reicht’s auch.«
»Schade. Ich wünschte, wir beide könnten an einem Strang ziehen. Schließlich wollen wir doch dasselbe.«
»Ach ja? Und das wäre?«
»Zoés Mörder finden.«
»Ich glaube nicht, dass die Polizei das wirklich will. Für Sie ist der Fall doch gelaufen. Sie wollen keinen Mörder finden, Sie wollen meinem Bruder die Sache anhängen. So sieht es doch aus. Aber nicht mit mir.« Beim Reden verändert sich ohne ihr Zutun Marits Stimmfarbe, sie klingt plötzlich älter und härter; es erschreckt sie ein wenig, und als sie die Wohnstube verlässt, presst sie sich erschrocken die Hand vor den Mund. Sonst ist sie nicht so unbeherrscht. Sie hat Angst, einen Fehler begangen zu haben.
Im Obergeschoss ist es stickig und bestimmt zehn Grad wärmer als unten. In ihrem Zimmer angekommen, widersteht Marit dem Bedürfnis, sich einzuschließen. Sie setzt sich an den Schreibtisch, fährt den Computer hoch, checkt ihre E-Mails und loggt sich in das Studentennetzwerk ein, in dem sie seit dem Abitur Mitglied ist, genau wie Helene und etliche andere Freundinnen. Keine neuen Nachrichten. Sie ist zur Unperson geworden.
Jede Minute rechnet sie mit Schritten auf dem Flur, einem Klopfen an der Tür. Doch glücklicherweise bleibt es still. Anscheinend ist sie diesmal ums Verhör herumgekommen.
Erst nachdem Birte Varnhorn das Haus verlassen hat – das Zuknallen der Autotür und das Aufheulen des Motors in der Auffahrt unüberhörbar, wie eine an Marit gerichtete Drohung –, lassen ihre Eltern sich blicken.
»Das war nicht sehr klug von dir«, sagt ihr Vater.
Damit könnte er richtig liegen, das ist Marit bewusst. Dennoch geht sie zum Gegenangriff über. »Aber ihr den Zettel von Ansgar zu zeigen, das war schlau, oder wie? Was geht die das an? Jetzt lässt die nach ihm fahnden.«
Ihre Eltern tauschen Blicke aus, die Marit vermuten lassen, dass die beiden in dieser Sache ebenfalls uneins miteinander sind. »Dazu wäre es ohnehin gekommen«, rechtfertigt sich Winfried Pauli und lässt Marit wissen, was die Polizistin ihnen zu verstehen gegeben hat: Bei der Obduktion ist das Sperma ihres Bruders gefunden worden. Eine Information, die Marit in erster Linie als Zumutung empfindet. Es gibt Dinge, über die spricht man schlicht und einfach nicht, jedenfalls sie nicht. Mal ehrlich: Was geht ihre Eltern das Sperma ihres Bruders an? Und vor allem: Was geht es sie an? Nur daran zu denken, lässt sie knallrot werden.
»Na, und wenn schon?«, sagt sie, ihre Wangen glühen vor Scham. »Sie waren ja auch ein Paar. Natürlich haben sie miteinander geschlafen.«
»Ja, aber warum hat er es der Polizei dann verschwiegen?«, fragt ihre Mutter.
»Weil es seine Privatangelegenheit ist?«
»Bei Mord hört die Privatsphäre auf«, sagt Winfried Pauli, worauf sich Marit die Frage nicht verkneifen kann, ob das für jeden von ihnen gilt.
»Natürlich. Warum?«
»Ich hab da heute so ein seltsames Gerücht über euch gehört. Genauer gesagt über dich, Mama. Du sollst Papi betrogen haben. Franka behauptet, Ansgar sei ein Kuckuckskind, falls ihr wisst, was ich meine.«
Schweigen. Während Marits Mutter ein Stück von ihr zurückweicht, als hätte sie eine Pistole gezückt, baut sich ihr Vater dicht vor ihr auf. Sie kann sehen und riechen, wie stark er schwitzt. »Das vergisst du am Besten ganz schnell wieder«, zischt er durch seine kaum bewegten Lippen hindurch.
Als Marit nicht reagiert, kommt er noch näher und tut etwas Überraschendes, zumindest wenn man bedenkt, dass sie eigentlich gerade streiten: Er hebt die Hand und zerzaust ihr das Haar, wie er es früher oft getan hat, als sie jünger war und einen Kurzhaarschnitt trug. Die Berührung verfehlt ihren Zweck, wirkt alles andere als tröstlich oder beschwichtigend. In dem Moment dämmert Marit, dass an der Sache sehr wahrscheinlich etwas dran ist. Und wenn schon. Sie schiebt den Gedanken weit von sich, als hätte er für das Hier und Jetzt keinerlei Bedeutung.
Allein
Du und deine Alten. Ich glaube, die vermissen dich ziemlich im Haus Waldschloss. Ich wollte hingehen und ihnen sagen, dass du nicht mehr kommst, falls keiner von den Pflegern mit ihnen darüber geredet hat und sie immer noch auf dich warten, aber ich konnte nicht. Zu feige. Gerade die
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