Luegensommer
betrachtete, bekümmert über das verlogene Glück, das sie ausstrahlten, spürte er, er würde eines davon in den Händen halten und um seine große Liebe trauern, und das nicht erst in achtzig Jahren, sondern viel zu bald. Die Erkenntnis durchflutete ihn wie ein Stromschlag. Er löschte die entscheidende Aufnahme sofort, holte sie aber später wieder aus dem Papierkorb hervor, da er wusste, dass es keinen Unterschied machte. Zumal es sich um eine Kopie handelte.
Wie gewöhnlich, wenn er vor etwas Irrationalem Angst hatte – was ständig vorkam und stets ziemlich heftig ausfiel –, versuchte Ansgar, allein damit fertigzuwerden. Mit Hilfe eines Joints gelang es ihm ohne Probleme, der Zwischenfall verschwand einfach aus seinem Gedächtnis.
Bis zu diesem Tag. Es mochte am Wintereinbruch liegen, unerwartet und viel zu früh für die Jahreszeit, daran, dass auf der Oberfläche des Flusses die ersten Eiskristalle glitzerten. Plötzlich erinnerte er sich und die Erinnerung speiste seine Trauer. Marit, die neben ihm den Strand entlangstapfte, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, bemerkte es sofort.
»Denkst du oft an Zoé?«
Er zuckte mit den Schultern. Er wollte ihr nicht das Wochenende verderben, ihr nicht und sich selbst auch nicht. Sie kam so selten zu Besuch. Was ihn nicht störte, solange sie zufrieden war. Sie hatte im Sommer viel durchgemacht. Das Stadtleben schien Marit zu gefallen, ihr über vieles hinwegzuhelfen. Seine Schwester. Er wusste, was er an ihr hatte.
»Was macht Berlin?«, fragte er.
Marit sprudelte über: neue Namen, neue Orte, neue Leute, die meisten studierten Kunst wie sie. Dass sie nicht allein nach Hamburg, sondern mit Helene und Markus nach Berlin gegangen war, hatten alle gut und richtig gefunden, ihre Entscheidung gegen die Betriebswirtschaftslehre jedoch hatte ihren Vater anfangs vor Wut die Wände hochgehen lassen. Inzwischen mochte er wenigstens Marits Bilder. Ein Anfang.
»Und bei dir?«, fragte Marit und hakte sich bei ihm ein. »Ich hörte, du bist neuerdings als Juniorchef in der Eisfabrik aktiv?«
Er wiegelte ab. »Ich hab nur ein bisschen mitgeholfen. Einer muss es ja machen.«
Auf keinen Fall wollte Ansgar den Eindruck erwecken, er habe nur darauf gewartet, seiner Schwester Konkurrenz zu machen. Eigentlich hielt er sich nicht für den geborenen Unternehmer, er fand bloß Gefallen daran, seinen alten Herrn etwas besser kennenzulernen. In letzter Zeit lief es ganz okay zwischen ihnen.
»Kommst du mit Papa klar?«
»Einigermaßen. Besser als früher jedenfalls. Natürlich hält er mich immer noch für ein Weichei.«
»Und die Leute in der Schule?«
Ansgar musste lachen. »Denen imponiert, dass ich im Knast war. So verschafft man sich Respekt. Idioten.«
Schweigend betraten sie den Anleger. Das Holz war mit einer feinen Schneeschicht überzogen, vorsichtig wagten sie sich bis ans Ende vor und gaben sich gegenseitig Halt. Hier draußen war das Eis zu einem zähen Brei verklumpt. Feine Schneeflocken segelten vom Himmel wie Federn.
»Ich hab dir doch von diesem Vaterschaftstest erzählt, den Papa ohne dein Einverständnis gemacht hat«, begann Marit.
»Und?«
»Das Ergebnis ist hier.« Sie hielt ihm einen verschlossenen Umschlag vor die Nase. »Ich hab’s vor Monaten aus der Post gefischt und wollte es dir schon die ganze Zeit geben, aber irgendwie hab ich mich nie getraut.«
»Ich fass es nicht.« Ansgar nahm ihr den Umschlag ab und riss ihn auf, las den entscheidenden Satz mit triumphierender Stimme vor: »Der Träger des übersandten DNA -Materials ist mit 99 , 99 prozentiger Sicherheit der Vater des Kindes.«
Seine Schwester umarmte ihn. »Ich wusste es. Wenn er dich das nächste Mal Weichei nennt, frag ihn einfach, ob er sich noch an Winnie Windelpupser erinnern kann.«
»Okay. Auf deine Verantwortung«, sagte Ansgar und faltete aus dem Schreiben einen Papierflieger, der in einem eleganten Schwung nach oben stieg, bevor er steil in die Elbe stürzte. Vielleicht würde er seinem Vater irgendwann davon erzählen. Vielleicht auch nicht.
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