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Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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dass Harks Übergriff ihr Angst eingejagt hat, auch wenn sie nicht wirklich geglaubt hat, er wolle ihr etwas tun.
    Die Rettungsschwimmer der DLRG kommen ihr entgegen, sie wirken aufgekratzt, rempeln sich gegenseitig an. Dahinter die ersten Strandbesucher: Familien, Urlauber oder Tagestouristen, die Eltern schwer beladen mit Sonnenschirmen, Kühltaschen und anderem Krempel, kleine Kinder, die Eimer und Schaufeln schleppen. Der Imbiss von Helenes Tante hat schon geöffnet, aus dem Radio auf dem Verkaufstresen plärrt ein deutscher Schlager, diese selten doofe Sängerin mit der Mickymaus-Stimme. Der Fischverkäufer bestückt gerade seine Auslagen und grüßt freundlich – ein gutes Zeichen?
    Nein. Als Marit auf ihr Fahrrad steigen will, bemerkt sie einen Platten und schlägt verärgert mit der Faust auf den Sattel. Auf der Hinfahrt ist das Rad völlig okay gewesen. Sie ist nicht über Scherben gefahren, das weiß sie genau. Ein zweiter Blick genügt: Jemand hat die Luft aus dem Reifen gelassen und das Ventil gleich mitgenommen. Hark könnte es getan haben, aber genauso gut Kinder oder jemand von den DLRG -Jungs. Diese selbstgefälligen Möchtegernhelden. War ihr Verhalten eben nicht merkwürdig, dieses Geschubse? Anschlag oder Dumme-Jungen-Streich?
    Nachdem Marit das Rad den Deich hochgeschoben hat, muss sie stehen bleiben, um zu verschnaufen wie eine alte Frau. Nicht nur die Anstrengung raubt ihr die Luft zum Atmen: Sie hat Seitenstechen, fühlt sich gedemütigt und ist wütend auf sich selbst, denn sie spürt, sie hätte diesem Säufer die Stirn bieten sollen. Warum hat sie sich so leicht vertreiben lassen, ohne am Strand schnell noch einen Kaffee zu trinken?
    Die Sonne verteilt in einem schrägen Winkel goldenes Licht über der Elbe, die jetzt meerblau aussieht, überhaupt nicht mehr schläfrig und auf tückische Weise harmlos. Das ist ihr Zuhause, und im Gegensatz zu ihren Freunden möchte sie nicht von hier fort. Es hat mit dem Fluss zu tun, er bedeutet ihr viel, eine Art launischer Freund, so verrückt das klingt. Ihr alter Schwimmlehrer würde sie verstehen, aber der lebt nicht mehr.
    Ansonsten hat das Dorf ja nichts zu bieten. Die völlig überladene Buchhandlung in der Hauptstraße ist eine kleine Attraktion – die wuchtigen Regale aus Eichenholz, die schönen Intarsien –, jedoch über kurz oder lang sicherlich genauso dem Untergang geweiht wie Biggis Boutique, die letztes Jahr im Herbst dichtgemacht hat, obwohl es dort eigentlich ganz coole Klamotten zu kaufen gab, zumindest hin und wieder. Am Strand und auf dem Deich spielen solche Veränderungen keine Rolle. Der Himmel ist weit und überwältigend. Schiffe, Schilf, Schafe, die irgendwo blöken. Die Luft riecht nach Meer. So war es seit jeher, so wird es immer bleiben.
    Unvermittelt fühlt sich Marit in den Sommer zurückversetzt, als sie und ihre Freundinnen dreizehn waren und unendlich gelangweilt, weshalb sie sich verzweifelt wünschten, irgendetwas möge passieren, eine Schiffskollision, eine Sturmflut, egal, Hauptsache etwas Dramatisches, um ihrer Lethargie ein Ende zu setzen. Heute würde sie den Wunsch gern zurücknehmen, als hätte sie damit das Schicksal herausgefordert. Aller Langeweile zum Trotz: Schon damals stand für Marit fest, dass sie später nicht fortgehen würde.
    Wenn sie weiterhin Teil des Ganzen bleiben will, muss sie verlorenen Boden zurückgewinnen. So würde es jedenfalls ihr Vater formulieren, der im Laufe seiner beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten schon viele Kämpfe auszutragen hatte.
    Aber was genau könnte sie tun? Marit muss nicht lange überlegen, denn im Prinzip ist die Antwort einfach: Da so viele Leute aus dem Dorf davon überzeugt sind, dass ihr Bruder seine Freundin getötet hat, muss sie das Gegenteil beweisen. Das geht nur, wenn sie selbst die Wahrheit kennt. Also muss sie danach suchen.
    Marit sammelt sich, bevor sie an die Tür klopft. Sie hat zu Hause geduscht, ihre Haare glatt geföhnt, die Augen geschminkt und sich angezogen wie für ein Vorstellungsgespräch: knielanger heller Rock, hellblaue Bluse, Pferdeschwanz. Gerade hier, wo sie alles andere als willkommen sein dürfte, will sie keinesfalls verzweifelt wirken, obwohl ihr immer noch zum Heulen zumute ist. Angesichts der Aufgabe, die sie sich auferlegt hat, könnte sie auch problemlos hysterisch werden, schließlich ist ihr noch völlig unklar, wie ausgerechnet sie die Aufklärung eines Verbrechens bewerkstelligen soll. Eine achtzehnjährige

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