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Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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oder her: Was hier passiert, hat nicht das Geringste mit Gerechtigkeit zu tun, es ist eine Gemeinheit. Und einen Gerechtigkeitssinn hat man oder man hat ihn nicht.
    Marit ist fast daheim, und beim Anblick ihres Elternhauses kommt ihr die Einsicht, dass auch Neid eine Rolle spielen könnte. Es ist zweifellos das schönste Haus in der Straße, nach den Wünschen ihrer Eltern in Anlehnung an den traditionellen Stil eines Niedersachsenhofes entworfen, aufgepeppt mit modernen Elementen wie großen Fensterfronten, Traufgiebel und Dachgauben, damit auch im Obergeschoss viel Platz entsteht. Statt Reet Dachziegel aus Schiefer, Ziermauerwerk schmückt die Fassade. Nicht übertrieben protzig, wie Marit findet. Und doch eine Art Monument ihres Wohlstands. Obgleich alles aus eigener Kraft erarbeitet ist, kann sich vermutlich nicht jeder Nachbar von ganzem Herzen mit den Paulis freuen.
    »Ach, du Schande«, brummt Marit, als sie in der Einfahrt einen blauen Audi erblickt, denn sie weiß nur zu gut, zu wem der gehört: Hauptkommissarin Birte Varnhorn. »Was will die denn schon wieder hier?«
    Nicht dass sie die Antwort wirklich wissen wollte. Marit hat nur eines im Sinn, möglichst ungesehen in ihrem Zimmer zu verschwinden. Bloß keine Fragen über Ansgar beantworten. Leider läuft es genau darauf hinaus. Offenbar wird sie sehnsüchtig erwartet, denn bereits beim Versuch, die Haustür geräuschlos ins Schloss fallen zu lassen, hört sie ihre Mutter rufen.
    »Marit, bist du das?«
    Wer sollte es sonst sein?
    »Marit?«
    Irgendetwas in ihr zwingt sie, voller Trotz den Mund zu halten, was ihr natürlich nichts nützen wird.
    In der Diele ist es schummrig. Ihr Vater tritt aus dem Wohnzimmer und schaltet das Licht ein. Wie neulich bei der Hausdurchsuchung hat er eine schlaffe Körperhaltung eingenommen, die ihn in Marits Augen zu einem Fremden macht: ein unterwürfiges Abbild seiner selbst. Als hätte er sich bei einer gewaltigen Anstrengung verausgabt und nun aufgegeben.
    »Da bist du ja. Kommst du mal bitte? Frau Varnhorn ist da und möchte mit dir reden.«
    »Muss das sein?«
    »Ja, leider, es muss sein«, sagt ihr Vater und drückt im Vorbeigehen ihre Hand.
    Birte Varnhorn sitzt auf der Ledercouch, rührt in einer Tasse Kaffee und begrüßt sie mit einem Kopfnicken, ein freundliches Lächeln auf den Lippen, als wären sie gute Bekannte.
    Auf dem Tisch liegt Ansgars Abschiedsnotiz: »Ich komme nicht zurück. Macht euch keine Sorgen.« Während Marit die beiden Sätze im Stehen nochmals überfliegt – seine hilflose Bitte, als ob er damit etwas bei ihnen bewirken könnte –, fragt sie sich, was ihre Eltern dazu getrieben hat, den Zettel herauszurücken. Ein schlimmer Verrat, der es Marit leicht macht, sie geradezu zwingt, sich ungezogen aufzuführen. Grußlos bleibt sie stehen, den Blick abwechselnd zur Decke und auf ihre Sneakers gerichtet, und lässt alles auf sich zukommen.
    Birte Varnhorn räuspert sich. »Wissen Sie, Marit, eigentlich bin ich hier, um mit Ansgar zu sprechen, da …«
    »Schon wieder?«, unterbricht Marit die Polizistin.
    »Ja, schon wieder. Leider. Uns liegen neue Indizien vor. Sie können sich ja denken, wie entsetzt ich war, ihn hier nicht anzutreffen.«
    Gut gemacht, Bruder, denkt Marit und schweigt. Birte Varnhorn trägt wieder ihre Kakihosen, dazu ein rotes T-Shirt, eine angesagte Marke, die von Skatern bevorzugt wird, viel zu jugendlich für eine Kriminalkommissarin. Es ist Marit schleierhaft, wie ihre konservativen Eltern so eine Person überhaupt ernst nehmen können, doch genau das tun sie, das ist nicht zu übersehen.
    »Ihre Mutter sagte, Sie wären wahrscheinlich die Letzte, die noch mit ihm gesprochen hat.«
    »Sagt sie das?«, fragt Marit gedehnt, um Zeit zu gewinnen, und beobachtet aus dem Augenwinkel, wie ihr Vater sich den Nacken massiert.
    »Worüber haben Sie und Ansgar gestern Nacht im Garten gesprochen?«
    »Nichts Besonderes. Das Wetter und so.«
    »Hat er keinerlei Andeutungen über seine Pläne gemacht?«
    Marit schüttelt den Kopf, sie kommt sich vor, als hätte Ansgars Abwesenheit auf mysteriöse Weise bei ihr den Wunsch ausgelöst, seinen Platz in der Familie einzunehmen. Von heute an ist sie die Verstockte. Varnhorns Bitte, sich die nächtliche Unterhaltung noch einmal ganz genau durch den Kopf gehen zu lassen, ignoriert sie mit ausdrucksloser Miene.
    »Gut, dann bleibt mir wohl keine andere Wahl, als ihn zur Fahndung auszuschreiben und mir einen Haftbefehl zu besorgen. Angesichts

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