Luegnerin
ich mir wohl bloß eingebildet, dass ihr zusammen im Central Park gelaufen seid und dass er dich hochgehoben und im Kreis herumgeschleudert hat und dann …«, hier macht Brandon eine Pause, um sich zu mir zu beugen und sich so laut und eklig wie möglich die Lippen zu lecken, »… dann gab’s reichlich Rumgeknutsche.«
Jetzt weiche ich zurück. »Das war ich nicht«, sage ich, ebenso bestimmt wie zuvor, aber er weiß genau, dass ich lüge, und ich weiß, dass er es weiß.
»Klar warst du das«, sagt er. »Es gibt kein anderes Mädchen auf der Welt, das so sehr aussieht wie ein Junge. Vielleicht war Zach insgeheim vom anderen Ufer.«
»Du bist ein Idiot, Brandon.«
»Wenn du meinst.« Er holt eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Tasche und zündet sich eine an, wobei er mir absichtlich den Rauch ins Gesicht bläst. »Brauchst du jetzt einen neuen Teilzeit-Freund, ja? Jetzt, wo der alte tot ist. Ich könnte mich bereit erklären. Für ’ne gute Nummer geh ich auch mal unter mein Niveau.«
»Fuck you«, sage ich und stapfe davon. Ich ärgere mich über mein Gefühl der Unterlegenheit.
NACHHER
Die einzige Lehrerin, die gut damit umgeht, ist meine Biolehrerin.Yayeko Shoji überzieht nicht alles mit einer
Zuckerschicht. Sie erklärt, was Fleisch ist und wie es funktioniert. Dass wir alle aus Fleisch bestehen. Wie Fleisch zu dem Gemüse wird, das wir alle essen. Sie passt ihre Worte nicht den Empfindsamkeiten der anwesenden Vegetarier an.
Fleisch besteht aus Zellen.
Fleisch besteht aus Gewebe.
Fleisch besteht aus Muskeln.
Fleisch besteht zu 5 Prozent aus Fett.
Fleisch besteht zu 10 Prozent aus Eiweiß.
Fleisch besteht zu 75 Prozent aus Wasser.
Zach war Fleisch. Fleisch verfault.
»Yayeko«, frage ich, »wie lange dauert es, bis ein Leichnam anfängt zu verwesen?«
Ich kann das plötzliche Einatmen hören.
»Das ist widerlich, Micah«, sagt Brandon.
»Müssen Sie das beantworten?«, fragt Sarah, wobei sich ihre Augen schon wieder mit Tränen füllen.
»Verfall und Verwesung sind ganz natürliche Vorgänge«, erklärte Yayeko. »Im Prinzip passiert immer das Gleiche, ob nun bei einer toten Blume, einer Ameise, einem Hund oder einem Menschen, ganz egal.«
»Aber müssen wir ausgerechnet jetzt darüber sprechen? «, fragt Sarah und tritt dabei entschlossener auf, als ich es je an ihr erlebt habe. Vor allem nicht gegenüber einer Lehrerin.
Aber ich will es gerade jetzt wissen. Jetzt, wo Zach im Leichenschauhaus liegt.
»Ich verstehe ja, dass ihr alle aufgewühlt seid, aber für manche Menschen ist es hilfreich, die betreffenden Vorgänge genau zu verstehen, um mit ihrer Trauer fertig zu
werden«, sagt Yayeko, und ich merke, dass ich nicke. Ich versuche verzweifelt, es zu begreifen. » Wir alle unterliegen den gleichen Gesetzen der Natur.«
»Und von Gott«, sagt Sarah.
»Das Erste, was nach dem Tod passiert«, sagt Yayeko, »ist, dass Blut und Sauerstoff nicht mehr länger durch den Körper strömen. Die Schwerkraft führt dazu, dass das Blut aus den kleinen Adern auf der Oberseite des Körpers fließt und sich in den tiefer liegenden Blutgefäßen ansammelt. Deswegen erscheinen Teile des Leichnams blass – die oberen Flächen – und andere erscheinen dunkel.«
»Und was ist, wenn man sowieso schon blass ist?«, will Tayshawn wissen. Die Klasse lacht, aber ich bin nicht sicher, ob er wirklich einen Witz machen wollte.
»Blassheit ist immer relativ, Tayshawn«, sagt Yayeko. »Die tiefer liegenden Körperteile werden einfach dunkler als die höher liegenden Teile.«
»Was meinen Sie denn mit höher liegende Teile?«, fragt Tayshawn beharrlich nach. »So was wie den Kopf?«
»Das hängt ganz von der Position des Körpers ab. Wenn er in Rückenlage liegt, dann sammelt sich das Blut dort an. In den Fersen und an den Waden und am Gesäß, am Rücken, am Nacken, am Hinterkopf. Das Gesicht ist dann blass.«
Tayshawn nickt zum Zeichen, dass er es jetzt begreift. Ich überlege, wie man Zach wohl gefunden hat. Welche Teile von ihm waren blass und welche dunkel?
»Als Nächstes hört die Zellatmung auf, sodass die Zellen den normalen Muskelstoffwechsel nicht länger aufrechterhalten können. Und was bedeutet das dann?«
Nur zwei Hände gehen in die Höhe. Meine und die von Lucy O’Hara.
»Lucy?«
»Sie produzieren keine Energie mehr.«
»Und woraus haben sie die produziert?«
»Glukose«, sagte Lucy. »Sauerstoff.«
»Ja.« Yayeko fährt fort. »Und wenn das aufhört, dringen
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