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Luegnerin

Luegnerin

Titel: Luegnerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justine Larbalestier
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wenn man aufwächst, ohne zu wissen, was man ist.«
    Dad warf seiner Mutter noch einen giftigen Blick zu. Damals wusste ich nicht, warum, aber jetzt bin ich sicher, dass er an seinen unbekannten Vater dachte und an die vergeblichen Bemühungen, ihn trotz all der Lügen seiner Mutter aufzuspüren.
    Selbst mit zehn wusste ich schon, dass meine Familie nicht normal war, aber mir war nicht klar gewesen, wie weit sie von der Normalität entfernt war. Wenn sie nun alle logen … ich blickte in ihre Gesichter. Sie logen nicht.
    »Ich bin ein Werwolf?« Das erschien plausibler als die Erklärungen der Ärzte für meine Behaarung, von wegen hormonelle Schwankungen und so. Großtante Dorothy meinte, die Haare würden verschwinden. Das hatte sie doch gesagt, oder?

    Großmutter beugte sich vor und tätschelte mein Knie.
    »Es ist eigentlich gar nicht so schlimm«, meinte sie. »Du kannst hier draußen bei uns leben. Hier ist reichlich Platz zum Wolf-Sein.«
    Hilliard schaute mich noch immer an. Ich dachte an all die Male, wo ich ihn gestreichelt und mit ihm gespielt hatte. Mir war nicht mal bewusst gewesen, dass er ein Wolf war. Ich dachte, er wäre ein normaler Hund, der nach meinem toten Großonkel benannt war. Außer, dass Großtante Dorothy und Großmutter und die anderen immer mit ihm sprachen, als wäre er ein Mensch. Aber ich hatte auch in der Stadt schon Leute gesehen, die ihre Hunde in der Handtasche mit sich herumtrugen und mit ihnen sprachen, als wären sie Babys. Menschen mit Tieren sind seltsam. Allerdings hatten Dad und die Oldies ja gesagt, dass Onkel Hilliard kein ganz normaler Wolf war.
    Er war ein Werwolf, genau wie ich.
    »Kann er verstehen, was wir sagen?«, fragte ich.
    »Das meiste«, sagte Großmutter. »Obwohl es schwer zu sagen ist. Hilliard verwandelt sich nicht mehr. Er ist die ganze Zeit Wolf.«
    Würde das auch mit mir geschehen? Musste ich hier draußen auf der Farm leben? Wusste Mom Bescheid? Würde es wehtun?
    »Wann werde ich zum Wolf?«, fragte ich. »Und für wie lange?«
    Sie erklärten es mir. Sie erklärten mir alles, was sie wussten über die Anzeichen, die mir zeigten, dass die Verwandlung bevorstand, über Zyklen, was mein Wolf-Ich wusste und was mein Mensch-Ich. Wie ich es kontrollieren konnte. Wie ich damit leben konnte.

    Sie erzählten mir, wie lange die Wilkins schon Wölfe waren. (Immer.) Welches die Familienlegenden waren. (Viele und vielfältige.) Warum sie nach Amerika gekommen waren. (Raum. Freiheit.)
    Als sie schließlich fertig waren, hatte ich einen tauben Hintern und mir drehte sich der Kopf und ich war so hungrig, dass mein Magen knurrte. Ja, wie ein Wolf.

FAMILIENGESCHICHTE
    Wenn der Wechsel – die Menopause – kommt, hört bei den meisten von uns die andere Art der Verwandlung auf. So oder so herum. Großmutter ist Mensch geblieben und empfängt jeden neuen Monat mit einer angespannten Haut, mit Kopfschmerzen und Hitzewallungen, manchmal auch mit einer juckenden Fellschicht, die innerhalb von Stunden wieder ausfällt. Aber sie bleibt Mensch.
    Bei Hilliard war es genau anders herum. Er ist immer Wolf. Er ist streunend und heulend auf einer Farm gefangen, die nicht einmal ein Zehntel eines normalen Wolfsreviers hat.
    Natürlich bricht er manchmal aus. Wie könnte es anders sein?
    Er reißt Wild und Waschbären und Kaninchen. Manchmal Schafe. Aber nicht oft.
    Und Menschen?, fragt ihr.
    Menschen nie. Wölfe fressen keine Menschen. Ebenso
wenig wie Werwölfe. Jedenfalls nicht ohne Grund. Wir töten niemals Menschen, um sie zu fressen. Zu gefährlich. Zu verdächtig. Außerdem schmecken Kaninchen und Rehe viel besser.
    Wenn dort draußen auf der Farm wieder einmal Schafe verschwinden, dann geben alle den Kojoten die Schuld. Kojoten, die größer sind, als sie je einer gesehen hat. Kojoten sind hier im Nordosten tatsächlich größer. Aber so groß?
    Im Staat New York gibt es keine Wölfe. Die Schafe können also nicht von Wölfen gerissen worden sein.
    In ganz Nordamerika gibt es kaum noch Wölfe. Ein paar ganz oben im Norden: Alaska, Teile von Kanada, winzige Abschnitte von Minnesota, Wisconsin und Michigan. Die Wölfe, die man im Yellowstone Park wieder angesiedelt hat – das sind die Einzigen, die nicht Gefahr laufen, abgeschossen oder in Fallen gefangen zu werden.
    Früher wimmelte es in Nordamerika vor Wölfen. Lauter Wölfe und auch viele Werwölfe. Jetzt gibt es nur noch Menschen und Highways und Größenwahn. Jedenfalls meinen das die Oldies. Aber wenn ich so

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