Luegnerin
bin aber noch nie verrückt geworden. Und ich will nicht wissen, wie das ist.
Ein Netzwerk von Lügen zu spinnen, ist das eine, von diesem Netz umsponnen zu werden, ist etwas anderes.
Deswegen schreibe ich dies hier. Um nicht durchzudrehen. Ich will keine Lügnerin mehr sein. Ich will meine Geschichte wahrheitsgemäß erzählen.
Aber das habe ich bislang nicht getan. Nicht ganz. Ich habe mich bemüht. Ich habe mich mehr bemüht als je zuvor. Aber, nun ja, es ist so viel und es ist so schwer.
Ich habe ein kleines bisschen geflunkert. Nur ein ganz kleines bisschen.
Aber ich werde es wiedergutmachen.
Von jetzt an wird es die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sein.
Ehrlich.
LÜGE NUMMER 1
Yayeko Shoji, meine Biolehrerin, hat die Verwesung von Zachs Leiche nicht beschrieben.
Das habe ich mir ausgedacht.
Yayeko hat uns weder etwas über die Ansammlung von Zachs Blut gesagt noch über das Leck seiner Kalziumionen oder seine Totenstarre oder den Zerfall seiner Zellen. Sie hat nichts über Bakterien, Fliegen, Eier oder Maden gesagt.
Ich habe euch erzählt, was ich gerne von ihr gehört hätte. Weil ich es wissen wollte. Weil ich es verstehen wollte. Wie der lebende, atmende Zach … der einfach so war, wie er war … zu Bakterien, Fliegen, Eiern und Maden werden konnte.
Alle erzählten Lügen.
Ständig war davon die Rede, dass er umgekommen war, aber keiner sagte, was das bedeutete. Ich hatte Direktor Paul sagen hören, Zach sei »von uns gegangen«. Er ist nicht »von uns gegangen«. Zach ist gestorben. So wie wir alle eines Tages. Nur war es bei ihm früher und mit mehr Gewalt, mit Ansammlungen von Blut innerhalb und außerhalb seines Körpers.
Also habe ich das über Tod und Verwesung nachgelesen und versucht, es zu verstehen.
Aber ich versteh’s nicht.
Das Erste, was nach dem Tod passiert, ist, dass Blut und Sauerstoff nicht mehr länger durch den Körper fließen.
Der Körper zerfällt. Langsam.
Am Ende bleibt nur noch das Schlagen meines eigenen Herzens, das Aus und Ein meines Atems. Sarahs. Tayshawns. Von uns allen, die zurückgeblieben sind.
Wir ticken weiter. Tick, tack.
Es tut weh.
NACHHER
Am Tag von Zachs Beerdigung verlasse ich Tayshawn und Sarah. Ich gehe Richtung Süden in den Park, Central Park, an die Stelle, wo Zach und ich uns das erste Mal geküsst haben.
Ich weiß nicht so genau, was ich mir davon verspreche. Es ist wie ein Zwang. Ich will ihm die Ehre erweisen. Der Park scheint dazu eher geeignet als eine Kirche voller Leute, die ihn zum großen Teil gar nicht gekannt haben. Jedenfalls nicht so, wie ich ihn gekannt habe.
Ein besserer Ort als in Sarahs und Tayshawns Armen.
Ich bin seitdem nicht mehr hier gewesen. Ich bin den Weg gelaufen, aber ich bin nicht stehen geblieben und habe nicht dort unter der Brücke gestanden und an jenen Tag gedacht. An diesen ersten Kuss.
Jetzt hängen keine Eiszapfen mehr von der Brücke herunter.
Es sieht ganz anders aus. Hier ist es immer noch grün, mit Blättern auf dem Boden anstatt Schnee. Die Luft zum Atmen ist nicht scharf.
Nichts ist so wie vorher.
Ich kann nicht daran denken.
Ich schlüpfe aus den Schuhen von meiner Mom und
halte sie in der rechten Hand. Ich renne nach Hause, wobei sich der weite Rock von Moms Kleid um mich herum aufbläht und dreht. Ich bin zu müde, zu aufgewühlt, zu behindert durch das Kleid, um mein Surf-Spiel zu spielen. Mein Kopf ist voller Gedanken an Zach. Und an Sarah und Tayshawn, an das Gefühl ihrer Münder an meinem. Es bringt die Sehnsucht nach Zach in meiner Brust zum Brennen. Das Atmen fängt an, weh zu tun. Meine Augen brennen.
Während ich auf der 3rd Avenue an der 12th Street vorbeilaufe, nehme ich einen strengen Geruch wahr, dann höre ich Laufschritte hinter mir. Ich spanne mich an, drehe mich aber nicht um. Dann läuft dieser Junge, der so ist wie ich, plötzlich neben mir. Er lächelt. Seine Zähne sind mehr grünlich gelb als weiß. Er sieht noch nicht sehr alt aus, aber seine Haut ist faltig. Nicht mal so alt wie ich. Er muss viel Zeit draußen verbringen.
Ich laufe schneller, aber das Kleid macht mir zu schaffen.
Er hält Schritt.
Das ist jetzt das vierte Mal, dass ich ihn sehe. Einmal am Broadway, als ich mein Surf-Spiel gespielt habe. Einmal im Park, als ich mit Zach gelaufen bin. Einmal an dem Tag, als ich Zach zum letzten Mal gesehen habe.
Ich kann seinen Atem hören. Er ist genauso ruhig wie meiner.
Der weiße Junge surft genauso gut wie ich durch die Menge der Leute. Weil
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