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Luegnerin

Luegnerin

Titel: Luegnerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justine Larbalestier
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ich dieses Kleid anhabe, ist er sogar besser.
    Er ist schnell, aber seine Technik ist grauenvoll: Die Arme flattern wie Flügel, die Schultern zu weit nach
oben gezogen, die Knie nicht hoch genug, er tritt fest mit den Fersen auf. Ob meine Technik wohl auch so schlecht war, bevor Zach es mir gezeigt hat? Ich hoffe, nicht.
    Aus der Nähe riecht er noch schlimmer. Er ist derartig dreckig, dass ich mich frage, ob er sich schon jemals gewaschen hat. Ich atme flach und ziehe die Nase kraus. Sein Gestank hat etwas Vertrautes, das ich kenne.
    »Du bist ein Wolf«, sage ich, während wir an St. Mark vorbeilaufen.
    Er stinkt danach.
    Aber wie kann das sein?
    Die Oldies sagen, dass unsereiner meistens die Städte meidet. Außer Wolfsjungen, die sich nicht verwandeln wollen. Ist er das? Aber warum folgt er mir dann?
    Er bleibt plötzlich stehen, was ich sofort auch tue. Aber ich bin zu langsam. Als ich mich umwende, ist er schon wieder davon, einen halben Block vor mir. Ich lege einen Sprint ein, um ihn einzuholen. Wenn man sich die unbeholfene Art ansieht, wie er mit abgespreizten Ellbogen um die anderen Leute auf dem Gehweg herumläuft, sollte man meinen, dass ich ihn einholen könnte, aber der halbe Block weitet sich zu einem ganzen Block Vorsprung aus. Ich bin versucht, Moms Kleid einfach zu zerreißen, aber dann bringt sie mich um. Ich gebe Gas, rase über die 11th Street und entgehe dabei nur knapp dem Zusammenstoß mit einem Taxi, dessen Fahrer laut fluchend auf die Hupe drückt.
    Der Junge ist jetzt noch weiter voraus und schlängelt sich durch den Verkehr auf der 14th.
    Kurz vor dem Union Square gebe ich auf. Heute Abend habe ich nicht mehr die Kraft, ihn einzuholen. Meine
Reserven sind durch die Beerdigung, durch Sarah und Tayshawn, durch Zach aufgebraucht. Ich bin fix und fertig.
    Auch mit den Nerven. Ich gehe nach Hause. Das muss jetzt sein. Während ich langsam wieder zu Atem komme, denke ich, wie gut es wäre, wenn die Oldies nicht so weit entfernt wohnten. Ich habe Hunderte von Fragen. Wenn der Junge wirklich das ist, was ich glaube, wenn er getan hat, was ich vermute, dann brauche ich ihr Wissen, sie müssen mir sagen, was ich jetzt tun soll.
    Im Moment überlege ich nur, wie es wohl wäre, seinen Bauch aufzureißen und zuzusehen, wie sich seine Eingeweide nach draußen ergießen.
    Ich überlege, was ich meinen Eltern erzählen soll.
    Ich ziehe die Schlüssel aus der Tasche und öffne die Tür zu unserem Haus. Ich sehe mich um. Da, auf der anderen Straßenseite vor dem Supermarkt steht der Junge und beobachtet mich.

LÜGE NUMMER 2
    Ich habe Sarah zuerst geküsst.
    Dass Sarah, Tayshawn und ich uns in der Höhle nach der Beerdigung in den Armen lagen, damit habe ich angefangen, nicht die beiden.
    Ich weiß nicht, warum ich gelogen habe. Spielt es eine Rolle, wer wen zuerst geküsst hat? Wir haben uns alle drei
geküsst. Keiner hat sich zurückgezogen. Da gab es kein Zögern.
    Ich schätze mal, dass ich es schön gefunden hätte. Dass sie angefangen hätten, nicht ich. Während wir so dasaßen und redeten, spürte ich, dass meine Lippen immer wärmer wurden, genau wie meine Haut – und auch die Höhle – die Luft zwischen uns. Ich wusste, dass es nicht nur bei mir so war. Auch ihre Münder glänzten röter als sonst. Ihre Augen waren klar. Sie waren ebenso erregt wie ich.
    Sarah wollte mich küssen. Da bin ich mir sicher. Und Tayshawn auch. Warum hätten sie sonst so reagiert? Sie brauchten mich, um ihrer Erregung ein Ventil zu geben.
    Aber es spielt schon eine Rolle, dass ich den ersten Schritt getan habe. Sie werden mich immer für leichtfertig halten.
    Indem ich sie zuerst geküsst habe, habe ich ihnen die Bestätigung geliefert für Tausende Schlampe- Rufe, die man mir im Vorbeigehen zugerufen hat.
    Als ich mich zu Sarah geneigt habe, war sie mir bereits entgegengekommen.
    Ich hätte warten sollen.

NACHHER
    Dad wartet auf mich. Er sitzt mit seinem Laptop in der Küche.
    »Hi, Micah«, sagt er und blickt lächelnd auf. Er zeigt
sein Mitgefühl, er weiß, was heute für ein Tag ist, und er hat an mich gedacht. Es gibt keinen Grund für mich, genervt zu sein. Ich bin aber genervt.
    »Hi, Dad«, sage ich in der Hoffnung, dass ich das hier schnell hinter mich bringen und in mein Zimmer verschwinden kann.
    »Und, wie war’s?«
    Ich zucke die Schultern. Was glaubt er wohl, wie die Beerdigung war? Nun ja, was wirklich war, kann er nicht wissen. Ich werde ihm nichts davon erzählen, dass ich mit Sarah und Tayshawn

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