Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Luegnerin

Luegnerin

Titel: Luegnerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justine Larbalestier
Vom Netzwerk:
geballt, die Ellbogen dicht an die Seite gedrückt.
    Ich habe sogar versucht, meinen Herzschlag in denselben Rhythmus zu bringen wie seinen.
    Ich konnte sein Herz schlagen hören, wenn ich schlief, und seinen Atem schmecken. Es war, als wäre er in meine Haut geschlüpft. Er war in mir und immer da.
    Auch nachdem er gestorben war.
    Vielleicht sogar noch mehr, nachdem er gestorben war.
    Ich war noch nie zuvor so entspannt, so glücklich mit einem anderen Menschen wie mit Zach.
    Ich wünschte, ich hätte ihn nicht angelogen. Ich wünschte, er hätte gewusst, was ich wirklich bin.
    Wenn er weitergelebt hätte, dann hätte ich es ihm, glaube ich, erzählt.
    Vielleicht.
    Ich habe der Polizei gesagt, dass ich ihm nie etwas zuleide getan hätte. Ich vermute, sie haben mir nicht geglaubt.
    Biologie war Zachs Lieblingsfach. Meins auch.
    Wenn er über mich Bescheid gewusst hätte, dann hätte
er mir vielleicht geholfen herauszufinden, wie mein Wolfsein funktioniert.
    Im Moment denke ich darüber nach, wie Zach geschaffen und wie er zerstört wurde.
    Einmal mussten wir im Unterricht ein Modell des menschlichen Körpers zusammensetzen. Wir haben uns angesehen, wie die Organe zusammengehören: Milz und Bauchspeicheldrüse hinter dem Magen. Gallenblase hinter der Leber. Nieren in der Mitte des Rückens. Der Dickdarm umschlingt den Dünndarm. Alles aus glänzendem Plastik.
    Yayeko hat uns darauf hingewiesen, dass echte Körper nur entfernte Ähnlichkeit mit dem Modell hätten. Dass Milz, Bauchspeicheldrüse, Leber, Nieren, Dick- und Dünndarm so unterschiedlich sind wie die Nasen und die Augen in unseren Gesichtern.
    Ist das Modell also eine Lüge?
    Zachs Organe ähneln diesem Modell jetzt noch weniger als zuvor. Sie fügen sich nicht mehr ineinander. Noch bevor sie angefangen haben zu verwesen, wurden sie auseinandergezerrt, zerfetzt, und Blut ist durch die Wände der Arterien und Venen herausgequollen, die es sicher hätten umfassen und im Kreislauf halten sollen.
    Zachs Blut ist nach außen gedrungen und hat alle seine Organe ertränkt.
    Aber ich weiß nicht, wie. Ich weiß nicht, wer ihm das angetan hat. Zumindest bin ich nicht sicher. Ich habe keinerlei Beweise für meinen Verdacht.
    Ich weiß nur, dass er für immer weg ist.
    Ich frage mich, ob ich wohl seine Lungen, seinen Kehlkopf, seine Bauchspeicheldrüse geliebt hätte, wenn ich sie sicher in seinem Inneren gesehen hätte. Wenn man jemanden
liebt, liebt man dann alles an ihm? Selbst den Schleim in der Kehle, die Aphte in seinem Mund, die Löcher in seinen Zähnen?
    Ich will, dass es immer Winter ist. Weil ich Zach im Winter kennengelernt habe. Richtig kennengelernt. Mit ihm gesprochen habe. Ihn geküsst. Mit ihm gelaufen bin. All das, was wir zusammen gemacht haben. Das waren alles Winter-Sachen.
    Im Winter lebte er noch. Alle Organe intakt.
    Im Sommer war ich fort, war ein Wolf und sehnte mich nach ihm.
    Aber jetzt im Herbst ist er fort. Auch alle seine Schichten. Bis runter auf seine Haut.
    Ich weiß nicht, was ich ohne ihn tun soll.
    Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, waren wir laufen. Den ganzen Weg vom Central Park bis zu seinem Haus in Inwood. Aber ich bin weitergelaufen, habe mich umgedreht, bin langsam rückwärts gelaufen, habe gewinkt und bin dann den ganzen Weg bis zur Lower East Side zurückgelaufen. Bis zu unserem Haus, mit meinem winzigen Zimmerchen, in dem wir nie gewesen waren.
    Ich habe ihn nie wiedergesehen.
    Nicht lebend. Nicht mit heilen Organen.

LÜGE NUMMER 3
    Es hat nie irgendwelche Ärzte gegeben.

    Meine Eltern hatten zu viel Angst davor, dass möglicherweise Blutproben genommen werden könnten. Zu viel Angst vor dem, was die Ärzte finden könnten. Vor dem, was sich in meinem Blut versteckt.
    Ich war noch nie bei einem Arzt. Bei keinem einzigen. Mit mir wurden noch nie irgendwelche Tests gemacht. Ich wurde nicht geimpft. Meine Augen oder Ohren wurden nicht getestet. Wenn ich Fieber habe, geben meine Eltern mir Aspirin, legen mir kalte Tücher auf die Stirn und hoffen, dass es wieder sinkt.
    Kein Arzt hat mir je gesagt, dass ich die Pille immer nehmen muss. Meine Mutter war nicht entsetzt von diesem Vorschlag. Sie ist diejenige, die sich das Rezept von ihrem Arzt holt. Das Detail habe ich nur hinzugefügt, damit es sich echter anhört.
    Die Haarentfernungsspezialisten gab es aber wirklich. Ich schwöre, dass ich im Alter von zehn Jahren schon bei jedem Einzelnen in ganz New York gewesen war: Elektrolyse, Wachs, Laser, Cremes und Tinkturen.

Weitere Kostenlose Bücher