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Luegnerin

Luegnerin

Titel: Luegnerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justine Larbalestier
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gut angefühlt. Ich wünschte, wir würden es wieder tun.
    Aber ich weiß nicht, wie es passiert ist. Sarah kann nicht wirklich vorgehabt haben, meinen Kuss zu erwidern. Ebenso wenig wie Tayshawn. Es muss etwas anderes gewesen sein, das über uns gekommen ist.
    Trauer.
    Wir haben versucht, in den Schichten unserer Haut Spuren von Zach zu finden.
    »Wie geht es dir, Micah?«, fragt Sarah und schiebt sich auf den Platz neben mir.
    »Gut«, sage ich.
    Sie legt die Hand auf den Tisch und berührt dabei versehentlich die Seite meines kleinen Fingers. Rasch ziehen wir beide die Hände zurück.
    »Sorry«, sagt Sarah. »Ich wollte nicht …« Sie hält inne. »Irgendwie unheimlich, hier Mittag zu essen, findest du nicht?« Sie schaut zu dem Plastikmodell des menschlichen Körpers hinüber. Die Innereien liegen durcheinander, die Bauchspeicheldrüse liegt auf dem Herzen, die Gallenblase an der Stelle, wo die Genitalien wären, wenn das Modell welche hätte. Dickdarm, Dünndarm und Kehlkopf liegen auf dem Fußboden.
    »Es ist ruhig hier«, sage ich und wünschte, ich müsste nicht sprechen. Zach wollte auch nicht ständig reden.
    » Wir sollten reden«, meint Sarah.
    Sie hat früher, als ich noch unsichtbar war, nie mit mir geredet. Aber jetzt bin ich es nicht mehr.
    Nachdem meine ersten beiden Lügen aufgeflogen waren – erstens, dass ich ein Mädchen war, und zweitens, dass ich nicht als Hermaphrodit geboren wurde –, danach
bin ich nach und nach verschwunden. Ich habe weder im Unterricht noch vorher oder nachher gesprochen. Wenn man die Klappe hält, können auch keine Lügen herauskommen. Es gab noch immer Getuschel, aber auch das ebbte nach einem Jahr langsam ab.
    Ich war gerne unsichtbar.
    Ich habe beobachtet. Ich habe nachgedacht.
    Zach hat mich auch nie gesehen. Das weiß ich. Ich hatte ihn bemerkt, wie er neben Sarah saß und an ihrem Hals knabberte, sie küsste. Oder mit den Jungs Ball spielte.
    Ich stellte mir vor, wie es wäre, so zu sein wie er. Aber ich habe ihn nicht beneidet. Ich war nicht glücklich, aber ich war auch nicht nicht glücklich. Unsichtbarkeit passt zu mir.
    »Ich mag dich, Micah«, sagt Sarah. »Abgesehen von Zach und alldem …« Sie blinzelt und holt tief Luft. »Abgesehen davon und davon, dass du eine verrückte Lügnerin bist.« Sie lächelt mich an und meine Wangen werden schon wieder heiß. Ich weiß nicht, wo ich hinschauen soll, außer zu ihr. »So gut wie gestern ging es mir nicht mehr, seitdem Zach … Das Reden meine ich. Dass wir drei Freunde sind. Ich will das nicht auch noch verlieren. Wir können doch Freunde bleiben, oder?«
    Ich nicke, obwohl ich es eigentlich bezweifle.
    »Gut«, sagt sie. Das Top, das sie trägt, klebt an ihren Armen. Sie sind dünn und sehen ganz und gar nicht stark aus. Was denken die sich eigentlich? Wie soll ein Mädchen wie Sarah Zach umgebracht haben? Er war stärker und größer und massiger als sie.
    Und Tayshawn? Warum nur sollte er seinen besten
Freund umbringen? Seinen Freund, den er schon seit der dritten Klasse kannte.
    Sarah wartet darauf, dass ich etwas sage, aber mir fällt nichts ein.
    »Könntest du mir in Bio helfen?«, fragt sie.
    »Dir helfen?«, wiederhole ich, weil ich nichts kapiere.
    Sie zeigt auf die Stücke des Plastikmodells. »Ich bin nicht so gut, wie ich sein sollte. Biologie ist nicht so meins.«
    »Klar«, sage ich.
    »Ich kann dir dafür in einem anderen Fach helfen.«
    »Okay.« Ich bin nirgends schlecht, aber Bio kann ich am besten.
    Sarah schaut mich an und erwartet mehr Worte, aber ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Sie hat nichts gesagt, nicht wirklich, über das, was geschehen ist. Es ist, als wäre gar nichts gewesen.
    Aber da war was. Wenn ich nicht an Zach denke, denke ich an das, was nach der Beerdigung zwischen mir und Sarah und Tayshawn geschehen ist. Wäre Zach sauer auf mich, wenn er es wüsste? Ich weiß, dass er tot ist. Aber ich muss trotzdem immer denken, dass er es weiß, dass es ihm nicht egal ist. Ich würde ungeschehen machen, was zwischen uns war, ich würde alles ungeschehen machen, wenn es ihn wieder lebendig machen würde. Ich würde aufhören zu lügen und allen von dem Wolf in mir erzählen.
    Er fehlt mir.
    Dort, wo er nicht ist, tut es so weh, dass ich mich manchmal nur mit Mühe aufrecht halten kann. Auch wenn sein Sarg in den Boden hinabgelassen wurde und er mit Erde bedeckt ist, kann ich nicht glauben, dass er tot ist.

    »Micah?«, fragt Sarah. Sie legt ihre Hand auf meine. Ihre ist

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