Luegst du noch oder liebst du schon Roman
Trance fahre ich Richtung Eimsbüttel und habe Mühe, mich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren. Am liebsten würde ich Lucas Mutter anrufen und fragen, ob Sammy dort übernachten darf, und anschließend Mia zu einem gemeinsamen Besäufnis überreden.
Doch ich tue nichts dergleichen, sondern mime stattdessen tapfer die Mama, die sich über das Zeugnis ihres Sohnes freut und zur Feier des Tages zum Abendessen Pizza Napoli vom L’incontro holt. Sammy ist total überdreht, und ich weiß jetzt schon, wie viel Mühe es kosten wird, ihn heute zeitig ins Bett zu bekommen.
Während die Pizza nochmals in die Mikrowelle wandert, schneide ich Rucola für den Salat klein, und mein Sohn redet ohne Punkt und Komma auf mich ein.
»Luca fliegt morgen nach Majorcina«, erzählt er, und ich habe momentan nicht die Energie, ihn zu verbessern und zu sagen, dass es Mallorca heißt. »Thore und Sarine fahren nach Italien, und Lilo …« Was die Tochter von Sammys Sportlehrer in den Ferien macht, interessiert
mich momentan kein Stück. Ich bin vollauf damit beschäftigt, die Reiseziele Mallorca und Italien an mir abprallen zu lassen, weil sie mich so schmerzlich an Oliver erinnern.
Warum ist alle Welt eigentlich so fantasielos, was das Verreisen betrifft? Was ist mit Skandinavien, Frankreich, Griechenland? Mit Portugal, Türkei - von mir aus auch Island?
»Nach den Ferien machen wir vielleicht eine Klassenfahrt«, informiert mich Sammy, und ich schneide mir dummerweise in den Finger. Mist, wie das blutet!
»Schätzchen, ich mach mir da eben ein Pflaster drauf, bin gleich wieder bei dir«, rufe ich und haste aus der Küche. Da klingelt das Telefon. Der Anrufbeantworter springt an, und die Stimme von Oliver schallt durch den Flur. Ich bleibe ruckartig stehen, und das Blut tropft auf den Laminatfußboden.
»Hallo Franca, hier ist Oliver. Ich wollte fragen, wie es dir geht. Wir haben ja schon lange nicht mehr voneinander gehört. Und jetzt bist du nicht da, wie schade. Ruf mich doch einfach zurück, wenn du magst … Ich würde dich sehr gerne sehen.«
Ich löse mich aus meiner Starre und wühle im Badezimmerschrank nach einem Pflaster.
Hat der Mann sie noch alle? Habe ich diesen Typen nicht vor wenigen Stunden erst in trauter Eintracht mit seiner Familie gesehen?
Meine Hand zittert so stark vor Wut, ich kann kaum meine Wunde versorgen. Beim Essen bin ich so unkonzentriert, dass es sogar Sammy auffällt.
»Du hörst mir ja gar nicht richtig zu!«, mault er vorwurfsvoll und schiebt schließlich den Teller weg.
Mich überfällt augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Ab Samstag ist er für drei Wochen mit meiner Mutter an der Ostsee, heute ist unser vorletzter gemeinsamer Abend - und es gab Noten.
»Häschen, hol noch mal dein Zeugnis. Und wenn wir es uns angesehen haben, rufen wir Papa an, in Ordnung?«
Beim Wort Papa beginnt mein Sohn zu strahlen.
Und auch meine Stimmung hellt sich auf, als ich, bereits zum dritten Mal in einer Stunde, die wirklich wohlwollende Beurteilung von Sammys Klassenlehrerin lese. Mathe scheint zwar nicht zu seinen Stärken zu gehören, aber das wundert mich nicht, in diesem Fach war ich selbst eine absolute Niete. In Deutsch und den musischen Fächern steht er weitaus besser da, und - was mir fast noch wichtiger ist - Tina Schubert bescheinigt ihm Integrations- und Einfühlungsvermögen, aber auch ein gesundes Maß an Selbstbewusstsein und Durchsetzungskraft. Offenbar haben Ralf und ich mit unserer Erziehung einiges richtig gemacht!
»Das hast du wirklich ganz toll hingekriegt!«, lobe ich Sammy zum hundertsten Mal an diesem Abend.
Dann klingelt erneut das Telefon, und ich warte wieder, bis der Anrufbeantworter angeht.
Diesmal ist es Tobias Bundschuh, der sich ebenfalls gern mit mir treffen würde. Um über Sammys Zukunft als Tänzer zu sprechen, behauptet er, während ich den Verdacht habe, dass er eher eine neue Mutter für Lilo
sucht. Schließlich war er schon auf dem Schulfest ziemlich anhänglich.
»Ich weiß, dass Sammy morgen in den Urlaub fährt«, tönt es durch die Wohnung, »und Lilo ist ein paar Tage bei ihren Großeltern in Frankfurt. Wie wär’s? Hätten Sie Samstagabend Zeit und Lust, mit mir essen zu gehen?«
Ich beschließe, erst einmal über den Vorschlag nachzudenken, statt meinem spontanen Impuls zu folgen und Oliver eins auszuwischen. Zumal Oliver ja auch gar nichts davon mitbekommen würde.
»Hättest du denn nach den Ferien auch noch Lust auf tanzen?«, frage ich
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