Lukas und die gestohlene Weihnacht
Marek. „Ihr Bäcker versteht es aber wirklich, leckere Lebkuchen zu backen!“
„Die habe n wir gar nicht selbst gebacken“, sagte der Bäckermeister. „Ein Mann hat sie uns heute Nachmittag gebracht.“
Lukas hörte augenblicklich auf zu kauen. Marek indessen aß genüsslich weiter.
„Wie sah der Mann aus?“, wollte Lukas wissen.
„Ein großer, dunkelhaariger Mann. Eine finstere Gestalt. Doch er meinte, er wolle die Lebkuchen herschenken, da er Gefallen an dem mit Äpfeln und Oblaten geschmückten Baum hätte, den er durchs Fenster gesehen hatte.“
„Hatte der Mann eine Narbe und trug er einen langen Mantel?“, fragte Lukas weiter.
„Ja, genau. Kennst du ihn?“
„Marek!“, schrie Lukas, „Hör sofort auf zu essen und spuck das aus!“
Marek kaute erst weiter, dann sah er jedoch Lukas überrascht an. Er gehorchte schließlich und spuckte seinen letzten Bissen aus.
„Was soll das?“, fragte der Bäcker.
„Ja, was soll das?“, fragte auch Marek.
„Der dunkle Mann hat die Lebkuchen gebracht! Marek, erinnere dich an heute Nachmittag, als wir hier den Bäcker mit ihm beobachtet hatten!“
„Ihr habt was?“, fragte der Bäckermeister verärgert. „Wer seid ihr? Wieso spioniert ihr hier herum?“
Marek fasste sich an den Bauch.
„Lukas, ich glaube, mir wird schlecht.“
„Steck dir den Finger in den Hals, Marek! Der dunkle Mann hat uns vergiftet! Ich weiß nicht wie, aber er wusste, dass wir davon essen würden.“
Doch es war zu spät, Marek fiel wie ein nasser Sack rücklings um und blieb reglos liegen, seine Beine noch immer im Schneidersitz verschränkt. Der Bäcker ergriff Marek, hielt ihn fest und steckte ihm einen Finger in den Hals, um ihn zum Erbrechen zu bringen. Doch dann ließ er plötzlich von Marek ab und stand auf. Er torkelte einige Meter rückwärts. Sein Gesicht war leichenblass.
„Junge“, sagte er, „rette dich.“ Dann fiel er um. Lukas spürte ein leichtes Unwohlsein. War das der Anfang vom Ende? Würde er hier in diesem Haus sterben? In einem Zunfthaus im Freiburg des Jahres 1419?
Lukas stand auf und ging in den hinteren Raum, wo die Gesellen waren. Er rief nach ihnen, doch niemand antwortete ihm. Als er den Raum betrat, sah er alle drei Gesellen am Boden liegen. Auch sie hatten die Lebkuchen gekostet und mussten dafür mit ihrem Leben bezahlen. Lukas ging zurück und kniete sich zu Marek.
„Marek!“, flüsterte er unter Tränen, „Marek, wach auf! Lass mich hier nicht allein!“
Doch Marek gab ihm keine Antwort mehr.
Lukas spürte einen stechenden Schmerz im Magen. Er hielt sich mit der einen Hand seinen Bauch. Seine andere Hand hob die Schneekugel empor. Sie begann zu leuchten. Was war in ihr zu sehen? Lukas versuchte etwas im Innern der leuchtenden Kugel zu erkennen, doch alles war verschwommen und ihm war schwindelig. Der Raum um ihn herum mit dem Bäcker und mit Marek lösten sich allmählich auf. Dann tauchte Lukas ein ins Licht und verschwand in der Zeit.
Kapitel 10
Der Wind peitschte die gefrorenen und harten Schneeflocken in sein Gesicht. Er hielt sich die rechte Hand vor die Augen. Die andere hatte er in der Jackentasche, die Schneekugel fest umklammernd. Der Schneesturm und die Dunkelheit ließen Lukas kaum etwas sehen. Er wusste nicht, ob er auf einem Weg ging oder über ein Feld stapfte. Er konnte nichts erkennen. Und er fror erbärmlich. Seine Zähne klapperten, was sich anhörte wie das Hämmern eines Spechts in einen Baumstamm. Der Rotz, der ihm aus der Nase lief, gefror sofort. Immer tiefer sank er im Schnee ein, schließlich stapfte er knietief durch den nächtlichen Winter.
Marek war tot. Genauso wie die Bäckersleute von Freiburg. Ebenso Rebekka, seine Schwester. Canisius, der Priester aus Prag. Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber aus Österreich. Johann Heinrich Wichern aus Hamburg. Alle hatten sie ihr Leben gelassen, weil sie dem dunklen Mann im Wege waren. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Vielleicht war der dunkle Mann ja schon bei Lukas’ Eltern gewesen und die lebten auch nicht mehr? Er wollte gar nicht daran denken. Was war passiert?
Maulbronn, 1892, der Adventskalender. Dann das Jahr 1839, bei Heinrich Wichern in Hamburg im Rauhen Haus. Der dunkle Mann stahl den ersten Adventskranz. 1818 in Österreich bei Salzburg, das Lied Stille Nacht, Heilige Nacht . Rebekka musste hier ihr Leben lassen. Lukas griff in seine Hosentasche: Den Liedtext hatte er noch immer. Die vorletzte Station war die
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