Lukianenko Sergej
Königsschloss,
als könnten sie mit ihrem Blick die hohen Mauern, das
Kopfsteinpflaster und die Steingewölbe der Kellerverliese
durchbohren und Sauerampfer und Ian entdecken.
»Wir müssen erst einmal herausfinden, warum sie
überhaupt verhaftet wurden«, fuhr Tiana fort. »Hass
wusste nicht, dass Ihr mich gerettet habt, stimmt’s? Also
müssen ihm die Vitamanten davon erzählt haben!«
»Die Vitamanten haben alle geschlafen«, sagte Trix.
»Bis auf Gavar. Vielleicht schafft er es früher oder später
ja tatsächlich zu den Kristallenen Inseln, aber bis dahin
hat er noch einen langen Weg vor sich!«
»Dann scheiden die Vitamanten also aus!«, schlussfolgerte Tiana. »Aber wer war es dann? Warum wird ein
verdienter Zauberer, ein Veteran der Schlacht bei der
Schwarzen Anfurt, vor dem Tor der Hauptstadt verhaftet
wie irgendein Räuber?«
Trix zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht«, gestand Hallenberry.
»Ich hätte vielleicht eine Erklärung«, sagte Tiana. »Allerdings ist sie etwas gewagt … ich muss noch darüber
nachdenken … und etwas herauskriegen.«
Eine Weile schlenderten sie über den Platz. Eigentlich
gab es kaum etwas zu sehen: eine hohe Mauer mit Wächtern, die auf ihr patrouillierten, Kopfsteinpflaster, der
Uhrenturm und die Spitzen der Kuppeln. Trotzdem kamen immer viele Menschen auf dem Platz zusammen.
Einige wollten die Schlossmauer besichtigen, einige sich
vor den Denkmälern der Helden und Könige an der Mauer verneigen, einige hofften, einen Blick auf die Equipage
des Königs – ja womöglich auf ihn selbst, wie er aus der
Kutsche heraus das hauptstädtische Volk musterte – zu
erhaschen. Überall wuselten Händler herum, die Andenken verkauften: kolorierte Stiche, die das Schloss oder
den König zeigten, Aquarelle mit Ansichten der Hauptstadt, hölzerne Figuren, die berühmte Gardisten des Königs in ihren Paradeuniformen darstellten, Börsen und
Taschen von den Börsen- und Taschenhoflieferanten,
winzige Porzellanteller mit einer Darstellung des Uhrenturms (auf dem Boden gab es ein Stück Harz, mit dem
der Teller am Büfett befestigt werden konnte) und Stofftiere in Form des Hofvogels (Taube), des Hofsäugers
(Waschbär) und des Hofinsekts (Biene). An den vorgesehenen Orten hatten sich die für den Platz zugelassenen
königlichen Bettler aufgebaut: Alte, die ihre Extremitäten
im Kampf verloren hatten, bucklige Greisinnen, die von
ihren hartherzigen Kindern verstoßen worden waren, alleinstehende Mütter, die Geld für die Erziehung ihrer
illegitimen Kinder brauchten; kleine Kinder mit großen
Augen, die Essen und ein Heim erflehten. Trix wusste
genau, was die Hofbettler verdienten und welche Steuern
sie zahlten. Doch selbst er war vom Anblick eines jungen
Mädchens, das Almosen für den Kauf eines Samarschaner Heilelixiers sammelte und dabei all ihre Leiden aufzählte, so gerührt, dass er ihm ein paar Kupferlinge zusteckte.
Dann gab es noch junge Männer, die über den Platz
flitzten. Immer wieder wurden sie von jemandem herangerufen, der ihnen ein paar Münzen in die Hand drückte.
Die Männer fingen daraufhin an, etwas zu erzählen, das
Trix aber nicht verstand. Anfangs hatte er diese Jünglinge ohnehin für Taschendiebe gehalten. Allerdings
verbargen sie sich nie, sondern schrien immer wieder
laut, außerdem trugen sie knallgelbe Hüte mit Bommeln,
die in der Menge sofort auffielen. Irgendwann stand einer
von ihnen ganz in Trix’ Nähe, und da endlich verstand er,
was sie riefen: »Gerüchte! Gerüchte des Tages! Allerneueste Gerüchte!«
Sofort winkte Tiana einen Jungen herbei. Der sah die
drei zweifelnd an, kam aber trotzdem zu ihnen und erklärte arrogant: »Königlicher Gerüchtedienst. Die Minute
ein Kupferling. Alles aus dem Leben bei Hofe, Geheimnisse, Intrigen, Sensationen. Alles, was Ihr schon immer
wissen wolltet, Euch aber nie zu fragen getraut habt.
Wohin fließen unsere Steuern? Woran ist der Kriegsminister erkrankt? Stimmt es, dass die Königin Samarschaner Wurzeln hat? Was kostet das Volk der Unterhalt des
Kutschparks Seiner Majestät?«
»Soll das heißen, der König hat einen speziellen
Dienst, der Gerüchte über ihn selbst in die Welt setzt?«,
fragte Trix.
»Sehr richtig«, bestätigte der Junge und zog die Nase
hoch. »Warum auch nicht? Gerüchte gibt es immer, auch
ohne unseren Dienst. So aber kann die Krone noch an
ihnen verdienen. Und Ihr könnt entscheiden, was Ihr hören wollt. Damit wird – auch das nicht unwichtig –
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