Lukianenko Sergej
nichts Konkretes gesagt wurde, hatte man sogar
den Eindruck, es sei der Neffe des Barons). Der Junge
könne lesen, schreiben und dergleichen mehr. Das Siegel
war echt und leuchtete ganz zart. Der König, genauer
gesagt seine Zauberer, hatten an alle Vasallen magische
Siegel verteilt. Ein solches Siegel zu fälschen war nicht
nur schwierig, sondern obendrein lebensgefährlich.
»Wunderbar«, wiederholte Ian. »Damit können wir bei
jedem Kaufmann unterkommen. Sogar ein Meister der
Goldschmiedekunst würde uns damit nehmen.«
»Nur dass ich nicht zu einem Kaufmann gehe!« Trix
rollte das Papier zusammen und steckte es wieder in den
Sack. »Ich will den Regenten Hass auf meine Seite ziehen.«
»Aber der Baron hat recht, Trix!«, widersprach Ian erschrocken. »Wir sollten besser nicht zum Regenten!
Damit würden wir alles nur noch schlimmer machen!
Lass uns zu einem Kaufmann gehen, ja? Du findest eine
Stelle und dann empfiehlst du mich. Wir lernen, verdienen Geld …«
»Hast du eigentlich eine Ahnung, was Ehre bedeutet?!«
Trix schüttelte den Kopf. »Nein, Ian, morgen früh sind
wir in Dillon. Dann gehen wir sofort in den Palast.«
Obwohl Ian das nicht passte, fing er keinen Streit an.
»Du musst es ja wissen«, brummte er bloß. »Aber jetzt
pass auf das Boot auf! Mir fallen nämlich schon die Augen zu. Um Mitternacht weckst du mich! Dann haust du
dich hin, damit du ausgeschlafen zum Regenten gehst,
und ich werde bis nach Dillon aufs Boot aufpassen.«
Trix dachte nicht lange über den Vorschlag nach. Er
wollte zwar schlafen, aber Ian hatte dem Baron so edel
und mutig einen Strich durch die Rechnung gemacht …
Außerdem hatte er recht. Besser, er schlief später und trat
würdevoll vor den Regenten.
»Einverstanden«, sagte Trix.
Ian streckte sich auf dem Boden des Boots aus, schob
sich den Proviantsack unter den Kopf und schlief auf der
Stelle ein. Trix korrigierte nur hin und wieder mit einem
Ruderschlag den Kurs. Immer wieder drehte er sich um,
aber niemand verfolgte sie. Entweder hatte der Baron
ihnen ihre Flucht verziehen oder er wollte die Wachposten
nicht wecken und ihnen von seiner Schlappe erzählen.
Wie gut, wenn man einen Freund hat! Selbst wenn er
aus einfachen Verhältnissen stammt. Wie oft war doch
echter Edelmut … äh … wie hieß es in den Chroniken
des Ordens Mannigfaltiger Genüsse ? Wie oft war doch
echter Edelmut in einer unansehnlichen Hütte zu Hause,
ganz wie sich alter Wein in einer verstaubten Flasche
findet.
Die Ritter des Ordens Mannigfaltiger Genüsse verglichen fast alles mit Wein. Na gut, manchmal auch mit
Bier. In Kämpfen hatten sie sich kaum ausgezeichnet,
dafür aber eine Unmenge erbaulicher Balladen und
Chroniken hinterlassen.
Ian zitterte im Schlaf. Seufzend nahm Trix den Umhang ab und deckte seinen Knappen damit zu. Eine Zeit
lang wärmte die edle Tat ihn besser als jeder Umhang,
am Ende war er jedoch steif vor Kälte. Ein Mensch von
weniger edler Erziehung hätte nun vielleicht zu den Rudern gegriffen, um warm zu werden. Aber Trix sah auf
jede Form körperlicher Arbeit herab, ganz wie es sich
für den Erben eines Co-Herzogs ziemt. Deshalb zitterte
er lieber, bis der Horizont langsam aufklarte, nahm Ian
dann den Umhang wieder ab und weckte seinen Knappen.
»Ist es schon so weit?«, fragte Ian verschlafen und
reckte sich. »Warum zitterst du denn so? Ist dir kalt?«
Trix schwieg stolz, legte sich hin und stellte fest, dass
es bequemere Plätze zum Schlafen gab. Gestern Nacht
war er einfach so müde, so von seinem Kummer überwältigt gewesen … Aber heute würde er bestimmt nicht
einschlafen. Das war unmöglich auf diesen kalten Brettern, die sich ihm derart schmerzhaft in die Rippen bohrten!
Als Trix erwachte, war es schon Tag. Glockenschläge
hatten ihn geweckt. Er setzte sich auf die Bank und sah
sich um. Das Boot war ein Stück aufs Ufer gezogen und
lag verborgen in hohem Schilf. In der Ferne erhoben sich
steinerne Türme.
Dillon! Die große Stadt, in der, wie man hörte, einhunderttausend Menschen lebten!
Wo steckte eigentlich Ian?
»Ian!« Trix stand auf und massierte sich die tauben
Beine. »Ian!«
Keine Antwort.
Wohin war sein Knappe verschwunden?
Nachdem Trix aus dem Boot gesprungen war, entdeckte er am Boden eine lehmige Fläche, in die jemand
Buchstaben geritzt hatte. Damit die Botschaft nicht zertrampelt wurde, war sie mit Schilfhalmen umzäunt worden.
Mit wachsendem Staunen fing Trix an zu lesen:
TUHT MIR LEIT! ZU HAS ZU GEHEN
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