Lukianenko Sergej
Türangeln quietschen, in einer
Ecke huscht eine Maus. Aber jetzt war es totenstill, wie
auf einem Friedhof oder in einer Höhle.
»Da ist niemand!«, flüsterte Trix.
»Warum flüsterst du dann?«
»Dann ist es nicht so gruselig.«
»Vielleicht habe ich wirklich nur geträumt«, räumte
Ian kleinlaut ein. »Komisch ist nur …«
Was genau nun komisch war, konnte er nicht mehr
sagen. Im Studierzimmer klirrte und knisterte etwas.
Plötzlich fiel grelles Licht unter der Tür hervor.
»Aah!«, schrie Ian aus vollem Hals.
»Aah!«, stimmte Trix ein, der genau wusste, dass es
besser war, den Feind zu erschrecken, als selbst Angst zu
zeigen, weshalb er auch noch mit dem Knüppel gegen die
Tür schlug.
»Aah!«, antwortete es ihnen zweistimmig aus dem
Studierzimmer.
Ermutigt von der Angst der ungebetenen Gäste, stieß
Trix mit aller Kraft die Tür auf.
Auf Sauerampfers Schreibtisch brannte hell eine Öllampe. Daneben stand ein blonder Junge mit Schwefelhölzern, der etwas jünger war als Trix und fürstliche
Kleidung in weißen und blauen Farben trug: Kniebundhosen, ein Spitzenhemd, einen runden Hut. Seinem Aussehen nach zu urteilen, war der Junge ein Page oder ein
Hilfsdiener bei Hofe. Hinter ihm versteckte sich ein kleiner Junge mit schwarzem Haar, der verdreckt war und
weit schlichter gekleidet – und obendrein ein guter Bekannter von Trix!
»Klaro!«, rief Trix. »Du?«
Der Junge mit dem allzu stolzen Namen Hallenberry,
der den Spitznamen Klaro bevorzugte, machte den Mund
zu. »Klaro. Ich«, sagte er kleinlaut. »Was machst du
denn hier?«
»Ich wohne hier«, brüllte Trix so selbstbewusst wie
möglich. »Das ist das Haus meines … meines Lehrers.
Ich kümmere mich darum. Und was machst du hier?«
Klaro sah seinen Gefährten flehend an. Der hielt noch
immer das brennende Schwefelholz in der Hand, gerade
erreichte das Feuer seine Finger. Der Junge quiekte, warf
das Zündholz weg, trat es aus und lutschte gleichzeitig an
seinem verbrannten Finger.
»Warum quiekst du wie ein Mädchen? War doch bloß
der Finger!«, knurrte Ian verächtlich hinter Trix’ Rücken.
»Aber echt, ein Fürstendiener und steigt in fremde Häuser
ein! Schämen solltest du dich! Wir rufen jetzt die Wache,
dann lässt dich Hass im Pferdestall auspeitschen!«
Trix fing einen aufmerksamen Blick des blonden Jungen auf und geriet irgendwie in Verlegenheit. Er hatte
den Eindruck, der Junge habe sich absichtlich verbrannt,
um ein paar Sekunden herauszuschlagen und sich eine
Antwort einfallen zu lassen.
»Sprich!«, befahl Trix. »Und du, Klaro, schweig! Offenbar habe ich einen Fehler gemacht, als ich dir am Pier
geholfen habe! Die hätten dich ruhig vermöbeln sollen!«
»Er war es, klaro, der das Boot verkauft hat und dann
den Jungen vom Markt besiegt hat«, sagte der Junge
schnell, bevor er endgültig verstummte.
Der fürstliche Diener zog nun doch den Finger aus
dem Mund und klopfte seinem Gefährten auf die Schulter. »Sei jetzt ruhig, Hallenberry«, sagte er. »Jungen, ich
bitte euch um Verzeihung für mich und meinen Freund.
Wir wussten nicht, dass in diesem Haus jemand lebt. Wir
brauchten eine Unterkunft für die Nacht, morgen wären
wir fortgegangen, ohne irgendeinen Schaden angerichtet
zu haben.«
Trix schnaubte. Der Junge hatte eine sehr schöne
Stimme, selbst wenn sie noch kindlich und zart klang.
Und er sprach so manierlich, dass sofort klar war: Er war
bei Hofe aufgewachsen.
»Wie kannst du es wagen, uns Jungen zu nennen!«,
sagte er absichtlich grob. »Wer bist du überhaupt?«
»Ich bin Tien. Ich bin der Lehrling des Barden.« Der
Junge nahm den Hut vom Kopf, um sich feierlich und
mit abgespreizten Armen zu verbeugen.
Trix neigte daraufhin ebenfalls den Kopf. Wenn du
vierzehn Jahre lang Etikette gebüffelt hast, reagierst du
auf bestimmte Handlungen und Gesten automatisch.
»Es tut mir leid … edler Herr. Dürfte ich Euren Namen erfahren?«
»Trix.«
»Trix!« In Tiens Augen blitzte etwas auf. »Trix Solier,
der Erbe des Co-Herzogs Rett Solier?«
»Ja«, gab Trix nach kurzem Zögern zu.
»Ich habe Euch erkannt, Eure Durchlaucht, Co-Herzog
Trix Solier.« Tien verbeugte sich noch einmal, diesmal
besonders tief. Aber auf die Knie ging er immer noch
nicht. »Ich habe Euch während des Besuchs Eures ruhmreichen Vaters beim Regenten Hass gesehen.«
»Was bin ich schon für ein Co-Herzog?«, fragte Trix
bitter. »Sator Gris hat mir den Thron genommen. Ich bin
nur ein Waisenkind auf der Flucht … und ein
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