Lukianenko Sergej
jeder – bis auf diejenigen, die gerade
an der Macht sind.
Trix eilte Sauerampfer schnellen Schrittes nach und
erinnerte sich an alle Interventionen von Zauberern, die
in den Chroniken beschrieben werden. Nicht immer hatten die Magier richtig gehandelt. Raghost Goldbart zum
Beispiel, eine Autorität in allen Fragen der Ehre, hätte
wahrscheinlich gut daran getan, das Wort, das er dem
Baron Comorrho an dessen Sterbebett gab, nicht zu halten. Natürlich stand dem Sohn des Barons der Thron zu –
aber welche Freude bringt ein junger Herrscher, dessen
Lieblingsbeschäftigung darin besteht, nachts Heuballen
anzuzünden, lachend um sie herumzurennen und eigens
eingeladene Bäuerinnen zu erhaschen? Oder man denke
an die herzensgute Zauberin Cecilia Nonforju, die für die
Waise Glania eintrat, die von den Bewohnern der Stadt
Ticklam so schändlich behandelt worden war. Gewiss,
die Städter hatten sich nicht anständig benommen, als sie
Glania die Bezahlung von Überstunden vorenthielten und
sie unmittelbar nach der Herbstmesse, bei der sie sich
gewaltig ins Zeug gelegt hatte, fortjagten. Aber was sollte
man mit achthundertzweiunddreißig hungrigen Elstern
(Trix faszinierte die Frage, warum Cecilia im Zorn immer ausrief: »Ihr gierigen Elstern!« Aber wahrscheinlich
könnte nicht einmal die Zauberin selbst auf sie antworten.) anstelle von Städtern anfangen? Dass Cecilia am
nächsten Tag alles bereute und die Elstern zurück in
Menschen verwandeln wollte, half leider auch nichts
mehr, denn inzwischen waren fast alle Vögel davongeflogen, wobei sie in den Schnäbeln Schmuck und Münzen davongetragen hatten.
Es gab aber auch positive Beispiele!
So überzeugte eine Delegation von Zauberern Marvis
den Unbarmherzigen davon, die Steuern nicht anzuheben. Und der junge Magier Kevin Dequenne setzte geschickt die einfachsten Zauber ein, um einen Volksaufstand niederzuschlagen und gleichzeitig den strengen
Herrscher milde zu stimmen. Und der ruhmreiche …
»Trix«, riss Radion den Jungen aus seinen Überlegungen, denn inzwischen hatten sie den Palast fast erreicht.
»Deinem Schweigen entnehme ich, dass dir der Ernst der
Lage bewusst ist.«
»Ja, Herr Sauerampfer.«
»Wenn der Regent ein geheimes Bündnis mit den Vitamanten eingegangen ist, darf er uns nicht am Leben
lassen. Seine Zauberer werden sich also bereithalten, uns
zu töten.«
»Aber Ihr seid stärker als sie, Lehrer!«, rief Trix.
»Oder?«
»Natürlich bin ich das«, bestätigte Sauerampfer. »Ich
könnte mich vermutlich durch Teleportation an einen
sicheren Ort retten. Aber was wird aus dir? Schließlich
kann ich dich nicht mitnehmen. Deshalb sieh zu, dass du
dich deines letzten Kampfes nicht zu schämen brauchst.
Bitte nicht um Gnade, weine nicht und protestiere nicht.
Vielleicht bringen dir deine Feinde dann Respekt entgegen und kerkern dich bloß ein. Es ist nämlich nicht üblich, Zauberlehrlinge umzubringen.«
»Vielleicht sollte ich Euch dann besser gar nicht begleiten?«, sagte Trix.
»Du hast Ideen!« Sauerampfer hob die Stimme. »Ich
brauche doch einen Fanaticus!«
»Einen Fanaticus?«
»Ja. Jemanden, der hört, wie ich … äh … den Zauber
ausspreche. Und begeistert ist. Das ist die unterste Ausbildungsstufe.«
»Könnte ich nicht irgendeinen anderen Titel haben?«,
fragte Trix.
»Nein. Zum Soufflöticus reicht es noch nicht, vom
Initiaticus ganz zu schweigen.«
»Und was ist ein Soufflöticus? Oder ein Initiaticus?«
»Ein Soufflöticus ist jemand, der dem Magier die nötigen Wörter vorsagt, wenn dieser ins Stocken gerät und
nicht das richtige Wort findet. Und ein Initiaticus ist ein
derart flinker Soufflöticus, dass er das nötige Wort bereits zur Hand hat, bevor der Magier überhaupt stockt.«
»Also das …!« Angesichts der Perspektiven, die sich
ihm da auftaten, vergaß Trix sogar, Angst zu haben. Gut,
er befand sich noch auf der untersten Stufe – aber welch
Zukunft lag vor ihm!
Den Fürstenpalast betraten Sauerampfer und Trix
durch das Regenbogentor, das von einigen Spitzfindigen
auch Dropstor genannt wurde. Es war so breit, dass eine
Kutsche bequem hindurchpasste. Oben wölbte sich ein
Bogen aus buntem Glas, das lustige bunte Schatten warf.
Dieses Schloss hatte der erste Fürst Dillon gebaut, jener
Süßschnabel, dem die Welt Aphorismen wie »Im Zucker
liegt die Kraft«, »Halva hat noch niemandem geschadet«
und »Trink Sirup und iss Sorbet, dann tut dir nie was
weh« verdankte. Der Fürst verfügte
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