Lukkas Erbe
ins Wohnzimmer. Miriam und Ben saßen sich auf dem Fußboden gegenüber, zwischen ihnen zwei Dutzend Karten. Er nickte zu jedem Wort, das Miriam ihm vorsprach. Dann schaute er in die Diele, sah Nicole bei der Küchentür stehen. Sein Lächeln wurde intensiver und weicher. «Fein.»
Miriam drehte sich um und sagte: «Das ist Nicole.»
«Fein», sagte er und tippte Miriam mit einem Finger gegen die Schulter. «Fein.»
«Nicht anfassen», sagte Miriam. «Ich heiße auch nicht Fein. Wie heiße ich? Mi-ri-am, sag es, Mi-ri-am.» Sie betonte die Silben sehr stark. Nicole sah, wie er an ihren Lippen hing, dann formten sich seine Lippen zu einem M.
«Ja», drängte Miriam. «Genau so, Mi-ri-am.»
«Maus», sagte er.
Für einen Moment war Miriam sichtlich irritiert, dann lachte sie leise. «Sieh an, das hast du dir gemerkt. Warum nur das? Du kannst es doch. Maus, Kumpel, Freund, Fein. Warum sagst du nicht Miriam, Bruno, Lukka, Nicole oder Patrizia? Wer bist du?»
Er schob eine Karte über den Fußboden zu Miriam hin.Nicole erkannte von der Küchentür aus nicht, was darauf stand. «Ich will es nicht lesen», sagte Miriam. «Ich will es einmal von dir hören. Ben. Herrgott, das ist nur eine Silbe, Ben, sag es.»
Zuletzt war sie etwas lauter geworden, er schien verunsichert, schob noch eine Karte über den Fußboden. Miriam verdrehte die Augen, ihr Kommentar sprach für sich. «Nein, ich bin nicht böse mit dir. Ich begreife das nur nicht. Du verstehst alles, warum sprichst du nicht? Was geht vor in deinem Kopf, was denkst du?»
Er zuckte mit den Achseln, und Miriam seufzte: «Machen wir eine Pause.»
Sie wollte aufstehen, was ihr nicht leicht fiel mit ihrer Behinderung. Er war schneller auf den Beinen, griff unter ihre Achseln und wollte ihr helfen. Sie wehrte ihn ab. «Nicht anfassen, habe ich gesagt. Ich kann das alleine, es dauert nur etwas länger.»
Zusammen tranken sie Kaffee, Miriam überließ ihm ihr Tortenstück, rauchte zwei Zigaretten, danach übte sie noch eine halbe Stunde mit ihm, sprach ihm Namen vor, überdeutlich artikuliert. Ohne Erfolg. Er sagte nur noch einmal: «Maus.»
Erst um fünf Uhr fuhr sie ihn zurück. Ehe sie ihn auf dem Hof aussteigen ließ, fragte sie: «Hast du noch mehr von solchen Holzstücken?» Und als er nickte, verlangte sie: «Ich will sie alle sehen.» Dann vereinbarte sie mit Bruno Kleu zwei Termine pro Woche, den Freitagnachmittag und den Samstagvormittag.
In der ersten Aprilwoche kam er zum ersten Mal alleine, klingelte nicht, klopfte nicht, stand nur vor der Tür mit dem Kasten unter dem Arm, zwei Paneelen in den Jackentaschen, ein Konfektionsmesser hatte er auch dabei.
Patrizia versorgte ihn immer noch regelmäßig mit Holz, sie hatte ihm auch – schon im Januar – ein zweitesKonfektionsmesser mitgebracht, weil er das erste verkramt hatte und ihr nicht zeigen konnte oder wollte, wo.
Es war ihm hinters Bett gefallen, weil er entgegen ihren Anweisungen nicht ausschließlich im Badezimmer schnitzte. Dort machte er nur Pferde oder andere Figuren. Bei den feinen Zeichnungen auf den Paneelen fielen keine Späne ab. Und auf dem Bett liegen fand er bequemer, als immer auf dem Klodeckel sitzen. Und als dann Renate mal unerwartet reinschaute, musste er das Messerchen rasch verschwinden lassen.
Mit dem schmalen Griff passte es so gerade in den Ritz zwischen dem Kastenbett und der Wand. Dass er es da nicht mehr herausholen konnte, hatte er nicht erwartet. Nach ein paar vergeblichen Versuchen fand er heraus, dass man den Kasten unter dem Bett komplett hervorziehen konnte. Aber da hatte Patrizia ihm schon ein neues organisiert.
So konnte er das erste mit zum Bungalow nehmen und die Gesichter der Mädchen fertig machen. Er schnitzte auf sehr eigenwillige Weise. Dabei ging er nur sehr methodisch vor. Es waren viele Details in einem schmerzverzerrten Gesicht. Ein Mund war zuerst zusammengepresst, dann öffnete er sich, die Lippen formten sich zu einem Schrei und waren anschließend von einem Stück Klebeband verschlossen. Die Augen mit all der Qual, wenn sie geöffnet waren.
So hatten sich in dem Schuhkarton ein Dutzend Paneele angesammelt, auf denen nur ein Merkmal besonders hervortrat. Miriam Wagner erkannte wohl, dass er ein Gesicht in das helle Furnier ritzte, sie sah auch, dass es immer dasselbe Gesicht war. Aber um wen es sich handelte, ließ sich erst feststellen, als er sein Werk vollendet hatte. Kein Mann, wie sie gehofft hatte.
Mit einer Lupe war es deutlich zu
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