Lukkas Erbe
früher die Rede gewesen von Heimen, in denen man ihm das eine oder andere hätte beibringen können. Immer hatte sie sich dagegen gewehrt, Angst um ihn gehabt, gedacht, dass er nur weggeschlossen würde, weil er zu nichts nütze war.
Und jetzt das. Hände waschen, Nägel schneiden, duschen und rasieren, eine Jeans, ein Polohemd und Sportschuhe mit Klettverschluss anziehen. Einen Sandsack prügeln, ein Handy bedienen, wenn auch nur mit einer einprogrammierten Nummer.
Nur der Himmel wusste, was er alles gelernt hätte, wenn sie sich nicht all die Jahre von ihren irrationalen Ängsten hätte leiten lassen. Vielleicht hätte er sogar ein paar Worte mehr gelernt, wäre nach Hause gekommen an einem Tag im vergangenen Sommer und hätte ihr erzählt, was Heinz Lukka anrichtete, hätte es so erzählt, dass man es verstehen konnte.
Darüber durfte Trude gar nicht nachdenken und tat es doch unentwegt. Dass ausgerechnet sie, die immer nur das Beste für ihn gewollt, ihm jede Chance auf ein bisschen Eigenständigkeit verwehrt und ihn in diese Situation gebracht hatte. Es drehte ihr hundertmal am Tag das Herz um, wenn sie ihn zum Fenster schauen sah, ihn fragen hörte: «Fein?»
Und es war wie in all den Jahren, was er wirklich meinte, verstand Trude nicht. Ihm ging es nicht nur umseine Schwester. Natürlich hätte er Tanja sehr gerne wieder gesehen. Aber er hätte auch gerne gewusst, was aus den anderen geworden war, hätte gerne geglaubt, dass er von mir richtige Worte gehört hatte. Immerhin hatte ich, die Frau von der Polizei, ihn aus der Gefangenschaft befreit. Doch so, wie sich ihm die Dinge darstellten, hatte ich ihn belogen.
Wenn sie am Abend in die Scheune gingen, sprach Bruno oft von dem schönen Mädchen, das vor langer Zeit in dem tiefen Loch verschwunden und wieder zurückgekommen war. Bruno hatte auch ein Foto und weckte mit seinen Worten große Zweifel, dass ich mein Versprechen gehalten und die Mädchen wirklich zu ihren Müttern gebracht hatte. Bruno sagte nämlich, das Mädchen sei weg, so viel verstand er, wenn Bruno mit diesem schwermütigen Ton aussprach, wie ihm zumute war.
«Du hast keine Ahnung, was für ein Gefühl das ist, Kumpel. Da läuft so ein Mädchen jahrelang durchs Dorf, man sieht es zigtausend Mal. Jedes Mal denkt man, hübsches Ding, ganz die Mutter. Dann ist das Mädchen weg, und man erfährt, dass man der Vater war. Und man hat’s nicht einmal im Arm gehalten, man hatte nicht die kleinste Chance, es vor so einem Schicksal zu bewahren. Ich hätte immer so gerne eine Tochter gehabt, was zum Knuddeln, da wachsen die Jungs zu schnell raus.»
Einmal sagte Bruno: «Wenn der Scheißkerl Lukka den August überlebt hätte. In keinem Knast der Welt wäre er sicher gewesen. Ich hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn in die Finger zu bekommen, Wachbeamte bestochen oder sonst was mit ihnen getan, damit sie mich für eine Stunde in seine Zelle lassen. Nur für eine Stunde. So viel Zeit hätte ich mir genommen, um ganz langsam das mit ihm durchzugehen, was er mit den Mädchen veranstaltethat. Und du machst das in zwei Sekunden, viel zu gnädig, Kumpel, und viel zu spät.»
Ben wusste nicht mehr, was und wem er glauben durfte, musste sich völlig neu orientieren, ganz für sich allein entscheiden, was gut und richtig, was böse und falsch war. Er wäre gerne einmal zum Lässler-Hof gegangen, um festzustellen, ob Britta wieder bei Antonia war. Wenn ich sie gefunden hatte, wie seine Mutter behauptete, und wenn ich tun konnte, was getan werden musste, hätte Britta zu Hause sein müssen. Dann hätte es aber keinen Grund geben dürfen, dass auf dem Lässler-Hof jetzt alle böse waren.
Auch zum Bungalow zog es ihn. Einen Blick durch die zerbrochene Glastür werfen und schauen, ob seine Schwester und sein Freund vielleicht noch am Boden lagen, oder ob wenigstens Bruno die Wahrheit sagte, dass Lukka jetzt in der Hölle schmore. Wo die Hölle war, wusste er nicht, aber wenn sein Freund dort war, konnte er nicht mehr in seinem Haus sein.
Unentwegt überlegte er, ob er es riskieren könne, einmal in der Nacht dorthin zu laufen – ganz schnell und nur ganz kurz. Seine Mutter sagte, da hinten wohne jetzt eine fremde Frau. Aber seine Mutter hatte ihm schon viele falsche Worte gesagt, nur weil sie wollte, dass er bei ihr blieb.
8. August 1997
Nach dem zweiten Überfall sprach sich im Dorf schnell herum, dass ein großer, kräftiger Mann im Bendchen sein Unwesen trieb. Das Paar aus dem
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