Lukkas Erbe
beim Birnbaum wieder, noch ehe er wusste, wie er dahin gekommen war.
Und Ben stand allein mitten auf dem Hof vor seinem Elternhaus. Im ersten Moment war er viel zu verblüfft, um zu wissen, was er tun sollte. Bruno hatte ihm gut zugeredet, schön im Auto sitzen zu bleiben. Er war sitzen geblieben, und Bruno hatte ihn herausgerissen. Das verstand er nicht.
Die Haustür war noch offen, also ging er hinein und schaute überall nach, ob seine Mutter wieder da war oder ob vielleicht Achim Lässler Bruno mit dem großen Messer erschreckt hatte. Aber es war niemand da. In den Schlafzimmern sah es wüst aus, alle Decken waren zerschnitten. Das gefiel ihm nicht.
Er ging wieder ins Freie, zog die Tür hinter sich zu und trabte los. Dann wurde er schneller, erreichte den breiten Weg, lief hinter den Gärten vorbei. Mit Erleichterung sah er Brunos Auto vor der Bresche stehen. Nur hielt seine Erleichterung nicht lange vor.
Bruno lag auf dem großen Fleck nackter Erde beim Birnbaum, einen Arm hatte er angewinkelt, das Gesicht darin verborgen, mit der anderen Hand wühlte er im Dreck. Er nahm an, Bruno suche das schöne Mädchen.Dabei wollte er ihm gerne helfen. Doch als er sich bemerkbar machte, schoss Bruno förmlich vom Boden in die Höhe, holte sofort aus und schlug zu. Er traf ihn an Brust, Schulter, Oberarmen, war völlig außer sich, nicht imstande, gezielt zu handeln, weinte und fluchte in einem Atemzug, prügelte dabei nur hilflos auf ihn ein.
Ben war völlig überrascht von dem Angriff, bog zuerst nur den Kopf nach hinten und steckte die Schläge aus Gewohnheit ein. Zweimal sagte er: «Kumpel.» Beim ersten Mal klang es verwirrt, beim zweiten Mal energisch. Unter Brunos Kinn zu schlagen, was bei Achim Lässler so gut funktioniert hatte, widerstrebte ihm. Plötzlich zog er Bruno an sich, umklammerte ihn mit beiden Armen und hinderte ihn so daran, noch einmal die Fäuste zu heben.
Bruno weinte immer noch heftig, schlug nun mit der Stirn gegen seine Schulter, versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien, das gelang ihm nicht. «Lass mich los», stammelte er. «Lass mich los, um Gottes willen.»
Ben gehorchte, trat einen Schritt zurück, betrachtete ihn zweifelnd und unsicher. «Kumpel», sagte er noch einmal.
«Scheiß auf Kumpel», schluchzte Bruno. «Hau ab. Na los, verschwinde. Geh mir aus den Augen, sonst schlag ich dich tot.»
Das wäre wohl so ohne weiteres nicht mehr möglich gewesen, wie Bruno am eigenen Leib gespürt hatte. Er suchte in seinen Taschen nach einem Tuch, um sich zu schnäuzen. Es schüttelte ihn immer noch. Diese Kraft in den Armen, als wäre er in einen Schraubstock geraten. Es war ihm noch nie passiert, sich nicht wehren zu können. Bisher hatte er sich nicht einmal wehren müssen, war immer der Angreifer gewesen.
Aber Bruno war überwältigt vom Begreifen, dassTrude es gewusst hatte. Lange vor allen anderen wusste sie, was mit seiner Tochter geschehen war. Und wie oft hatte sie ihm ins Gesicht schauen können, ihm vorgelogen, Ben habe Lukka möglicherweise beim Beseitigen der Leichen beobachtet. Möglicherweise! Nachdem sie zwei Finger verbrannt hatte.
Und Jakob hatte ihm erzählt, die tausend Mark Unterhalt für seinen Sohn jeden Monat stammten aus Trudes Lebensversicherung. Von Lukkas Erbe wusste Bruno seit Monaten. Achim Lässler hatte Maria von den Aktien erzählt, nachdem er es von Miriam Wagner gehört hatte. Als Maria es ihm erzählte, hatte Bruno noch gedacht, dass auch ein Scheusal wie Lukka irgendwo eine menschliche Seite gehabt haben müsse, und dass Jakob sich nur dafür schäme, das Geld genommen zu haben.
Zweifel an Lukkas alleiniger Täterschaft hatte Bruno Kleu bis dahin nicht gehabt. Dafür konnte er sich zu gut hineinversetzen in diesen Scheißkerl, hatte schließlich in jungen Jahren auch einmal mit dem Gedanken an blutige Rache gespielt, sich ausgemalt, Paul Lässler zu zeigen, wie weh es tat, etwas nicht behalten zu dürfen, was man unbedingt zum Leben brauchte.
Bruno setzte sich auf die Erde, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm. Das Gestrüpp rundum verschwamm ihm vor den Augen, auch Ben verschwamm. Sekundenlang stand er noch hoch aufgerichtet vor ihm.
«Hau ab», sagte Bruno.
Da setzte Ben sich zögernd in Bewegung, ging zum Weg, schaute sich immer wieder um, ob er zurückgerufen wurde.
«Hau ab, du Idiot!», schrie Bruno noch einmal hinter ihm her.
Deutlicher hätte er ihm nicht sagen können, dass er gehen musste. Er wusste nur nicht, wohin.
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