Lukkas Erbe
Zurück zuseinem Elternhaus? Aber dort war niemand mehr. Fast eine halbe Stunde stand er unschlüssig neben dem BMW, wartete, ob Bruno kam und es sich vielleicht noch anders überlegte. Zweimal ging er die wenigen Schritte zurück, wagte durch die Bresche einen Blick zum Birnbaum.
Er ließ Bruno äußerst ungern zurück, nur ging es wohl nicht anders. Langsam setzte er sich in Bewegung, trottete mit hängenden Schultern Richtung Bungalow und überdachte die Situation. Er musste irgendeinen Fehler gemacht haben, sonst hätte Bruno ihn nicht geschlagen und nicht geweint.
Die Tränen verwirrten ihn mehr als die Schläge. Dass ein Mensch auf ihn eindrosch und dabei weinte, hatte er noch nie erlebt. Sein Vater hatte immer nur geschimpft und gebrüllt, wenn er ihn verprügelte. Wer weinte, hatte große Schmerzen oder viel Angst und wusste nur nicht, dass es nicht besser wurde, wenn man weinte.
Als er den Bungalow erreichte, war er sicher, dass Bruno Hilfe brauchte. Aber er hatte sein Handy nicht dabei, hätte auch nicht gewusst, wen er in diesem Notfall anrufen sollte. Er hörte die Frauenstimmen, ihr Lachen, bog nicht nach rechts in den Weg, der zur Landstraße führte. Er ging links, am Bungalow vorbei zur Rückfront. Dem Haus seines Freundes hatte er sich stets nur von hinten genähert. Vorne gab es einen kleinen Zaun. Die große Rasenfläche, die sich der Terrasse anschloss, lag offen.
Wohl war ihm nicht dabei, er fürchtete, dass die fremde Frau wieder wie Bruno schrie: «Hau ab, du Idiot.»
Die fremde Frau saß zusammen mit der schönen, die ihn zu Tanja gefahren hatte, in der Abendsonne. Nicole Rehbachs Anblick erleichterte ihn ein wenig, auch wenner von ihr immer noch nichts Gutes erwartete. Er steuerte auf sie zu.
Doch ehe er erklären konnte, warum er kam, gab die fremde Frau einen Pfiff von sich und sagte: «Wow. Es muss hier wirklich ein sehr gesundes Klima sein. Die starken Männer sprießen nur so aus dem Boden, und schön ist er auch noch. Herzchen, das wird ein Bilderbuchbaby. Soll ich ihn fragen, ob er Zeit hat und keine Ansprüche stellt, oder willst du?»
Was das bedeutete, wusste er nicht. «Kumpel weh», sagte er.
Die fremde Frau runzelte irritiert die Stirn, als die Schöne sagte: «Das ist Ben.»
«Kumpel weh», wiederholte er eindringlich und zog die Karten mit den Namen aus der Tasche.
Die fremde Frau betrachtete ihn so sonderbar, hatte gar keinen Blick für Brunos Bild. Die Schöne fragte: «Was ist denn passiert, ein Unfall?»
Das wusste er nicht. «Finger weg», sagte er.
Nicole sah die Blutstropfen auf der Schulter seines T-Shirts , dachte an das Messer in seiner Tasche, mit dem er laut Patrizia nur Holz bearbeitete. «Hast du Bruno Kleu etwas angetan?»
Er schüttelte heftig den Kopf. «Kumpel weh», sagte er noch einmal.
Und Nicole antwortete: «Schon gut, zeig mir, wo er ist.»
Sie lief mit ihm den Weg zurück, aber Bruno wollte sie nicht sehen, weinte und schrie, sie sollten beide verschwinden und ihn in Ruhe lassen.
Die Wende
Dieser Nachmittag im August 96, der alles veränderte, hatte für Miriam Wagner und Nicole Rehbach friedlich und harmonisch begonnen. Durch die kleinen Veränderungen der Einrichtung hatte sich die Atmosphäre im Bungalow in den vergangenen Wochen schon stark gewandelt.
An dem Mittwoch bot Miriam ihrer Freundin eine besondere Überraschung. Sie war aufgedreht wie ein Kind, als Nicole sie nach der Frühschicht wie schon so oft besuchte. Miriam öffnete, legte ihr die Hand vor die Augen. «Nicht blinzeln, Herzchen, erst schauen, wenn ich es sage.»
Sie führte Nicole durch die Diele, bei der Tür zum Wohnzimmer nahm sie die Hand weg. «Na, was sagst du?»
Zuerst war Nicole sprachlos. Die dunkle Ledergarnitur mit den hölzernen Armlehnen war durch helle Sitzelemente ersetzt. Der wuchtige Eichentisch hatte Platz gemacht für einen Tisch mit Glasplatte, die bisher nackten Terrassentüren waren mit einem luftigen Seidenstoff verhängt. Ein paar Topfpflanzen hauchten dem grossen Raum Leben ein, ein Schälchen hier, eine Vase dort brachten eine verspielte Note hinein.
«Es geht noch weiter», sagte Miriam und drängte sie hinaus auf die Terrasse. Dort standen Korbmöbel mit dicken Kissen unter einem Sonnenschirm. Der Tisch war schon mit dem neuen Service gedeckt. Zwei Stücke Sahnetorte standen im Kühlschrank.
«Die Landstraße bin ich inzwischen so oft gefahren, dass es anfängt, mich zu langweilen», sagte Miriam. «Jetzt können wir es uns hier
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