Lullaby (DE)
»Passwort«.
Und ich sage, bin schon lange weit über zehn hinaus.
Und die Stimme im Telefon sagt: »Hallo?«
Ich lege die Hand über die Sprechmuschel und sage zu Oliphant, da muss wohl ein Virus umgehen. Wahrscheinlich ist Henderson deswegen nicht da. Ich geh jetzt nach Hause, und den Artikel gebe ich von dort aus durch, versprochen.
Oliphant flüstert vier Uhr ist Redaktionsschluss und tippt aufs Glas seiner Armbanduhr.
Und ins Telefon frage ich, ob Helen Hoover Boyle im Büro ist. Ich sage, mein Name sei Streator, ich müsse sie dringend sprechen, auf der Stelle.
Ich zähle 489, zähle 490, zähle 491 . . .
Die Stimme sagt: »Weiß sie, worum es geht?«
Ja, sage ich, aber sie werde so tun, als wüsste sie’s nicht.
Ich sage, sie muss mich aufhalten, bevor ich noch mehr Leute umbringe.
Und Oliphant weicht ein paar Schritte zurück, bevor er den Blickkontakt abbricht und in seine Redaktion verschwindet. Ich zähle 542, zähle 543 . . .
Auf der Fahrt zum Maklerbüro bitte ich den Taxifahrer, bei mir vorm Haus zu warten; ich müsse nur mal kurz rauf.
Der braune Fleck an der Decke ist größer geworden. Ungefähr so groß wie ein Autoreifen, nur hat der Fleck jetzt auch Arme und Beine.
Wieder im Taxi, versuche ich mir den Gurt anzulegen, aber er ist zu kurz eingestellt. Er schneidet mir ins Fleisch, mein Bauch quillt oben drüber, und ich höre Helen Hoover Boyle sagen: »Mittleres Alter. Einsachtundsiebzig. Etwa fünfundsiebzig Kilo. Weißer. Braun. Grün.« Ich sehe sie unter der Blase ihres rosa Haars, sie zwinkert mir zu.
Ich nenne dem Fahrer die Adresse des Maklerbüros und sage ihm, er kann so schnell fahren, wie er will, er soll mir bloß nicht auf den Wecker gehen.
Details zu dem Taxi: Es stinkt. Der Sitz ist schwarz und klebrig. Ein Taxi eben.
Ich sage, ich habe ein kleines Problem, ich werde zu schnell wütend.
Der Fahrer sieht mich im Rückspiegel an und sagt: »Vielleicht sollten Sie mal an so einem Kurs teilnehmen: Wie beherrsche ich meine Wut.«
Und ich zähle 578, zähle 579, zähle 580 . . .
14
Dem Architectural Digest zufolge sind große Villen inmitten riesiger Gärten und Farmen für Vollblutpferde echt gute Wohnsitze. Town & Country zufolge machen Ketten aus dicken Perlen was her. Travel & Leisure zufolge kann man sich auf einer im Mittelmeer vor Anker liegenden Jacht entspannen.
Im Wartezimmer des Maklerbüros von Helen Hoover Boyle gilt so etwas als sensationelle Neuigkeit. Ein echter Hammer.
Auf dem Couchtisch liegen alle diese Hochglanzzeitschriften aus. Und es steht dort eine bucklige Chesterfield-Couch, bezogen mit rosa gestreifter Seide. Der Sofatisch dahinter hat lange Löwenbeine, deren Klauen sich um Glaskugeln spannen. Man fragt sich, wie viele dieser Möbel ohne ihre Metallbeschläge hierher gekommen sind, ohne Schubladengriffe und Zierleisten. Als Schrott verkauft, wurde das Zeug hier angeliefert, und Helen Hoover Boyle hat es wieder zusammengebaut.
Eine junge Frau, halb so alt wie ich, sitzt hinter einem geschnitzten Louis-quatorze-Schreibtisch und starrt einen Radiowecker an, der vor ihr steht. Auf ihrem Namensschild steht Mona Sabbat. Neben dem Radiowecker steht ein Scanner zum Abhören des Polizeifunks, aus dem aber nur Knistern kommt.
Im Radiowecker keift eine ältere Frau mit einer jüngeren. Anscheinend ist die jüngere außerehelich schwanger geworden; jedenfalls beschimpft die ältere sie als Hure und Schlampe. Eine dumme Hure, sagt die ältere: Die Schlampe habe die Beine breit gemacht und sich noch nicht einmal dafür bezahlen lassen.
Die Frau am Schreibtisch, diese Mona, stellt den Scanner ab und sagt: »Ich hoffe, das stört Sie nicht. Ich höre diese Sendung sehr gern.«
Mediensüchtige. Phobiker der Stille.
Im Radiowecker sagt die Ältere zu der Schlampe, sie soll das Baby zur Adoption freigeben, sonst habe es nämlich keine Zukunft. Sie sagt der Schlampe, sie solle erst mal erwachsen werden und ihr Mikrobiologiestudium abschließen, dann könne sie heiraten; aber bis dahin solle sie keinen Sex mehr haben.
Mona Sabbat zieht eine braune Papiertüte unter dem Schreibtisch hervor und nimmt dort etwas heraus, was in Folie gewickelt ist. Sie reißt die Folie auf, und plötzlich riecht man Knoblauch und Ringelblumen.
Im Radiowecker heult die schwangere Schlampe wie ein Schlosshund.
Knüppel und Steine brechen dir die Beine, aber Worte können verdammt wehtun.
Einem Artikel in Town & Country zufolge sind schön mit der Hand geschriebene
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