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Lullaby (DE)

Lullaby (DE)

Titel: Lullaby (DE) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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danach zu malen. »Aber lächelnd«, sagt Oliphant. »Lächelnd und menschenähnlicher.«
    Vorher, als ich von der Bar in der Third zur Arbeit zurückging, hatte ich, um mich irgendwie zu beschäftigen, meine Schritte gezählt. Ich war schon bei 276, als sich an einer Kreuzung ein Mann in einem schwarzen Ledertrenchcoat an mir vorbeischiebt und sagt: »Aufwachen, Arschloch. Die Ampel ist grün.«
    Ich starre noch den schwarzen Lederrücken an, als mir, plötzlich und unwillkürlich wie ein Gähnen, das Merzlied durch den Kopf spult.
    Kurz vor Erreichen der anderen Straßenseite hebt der Mann im Trenchcoat den Fuß, um auf den Bordstein zu treten, schafft es aber nicht. Er tritt voll gegen die Kante, stürzt vornüber und knallt mit der Stirn auf den Bürgersteig. Das hört sich an, wie wenn ein Ei auf den Küchenboden fällt, allerdings ein echt großes Ei, gefüllt mit Blut und Hirn. Seine Arme liegen gerade ausgestreckt neben ihm. Die Spitzen seiner schwarzen Schuhe hängen über dem Rinnstein.
    Ich gehe an ihm vorbei und zähle weiter, 277, zähle 278, zähle 279 . . .
    Eine Straße weit vom Redaktionsgebäude entfernt ist der Bürgersteig durch eine Absperrung blockiert. Dahinter steht ein Polizist in blauer Uniform und schüttelt den Kopf. »Sie müssen zurück und auf die andere Straßenseite. Hier darf keiner durch.« Er sagt: »Da hinten wird ein Film gedreht.«
    Ich starre noch sein Dienstabzeichen an, als mir, unvermittelt wie ein Krampf, die acht Zeilen des Lieds durch den Kopf ziehen.
    Der Polizist verdreht die Augen, bis nur noch das Weiße darin zu sehen ist. Eine behandschuhte Hand hebt sich halb in Brusthöhe, und die Knie knicken ihm ein. Dann kracht er mit dem Kinn so heftig auf die obere Kante der Absperrung, dass man die Zähne zusammenschlagen hört. Etwas Rosafarbenes fliegt ihm aus dem Mund. Es ist die Spitze seiner Zunge.
    Ich zähle 345, zähle 346, zähle 347, hebe ein Bein nach dem anderen über die Absperrung und gehe weiter.
    Eine Frau mit einem Walkie-Talkie in der Hand stellt sich mir in den Weg, sie streckt einen Arm nach vorn und will mich aufhalten. Kurz bevor ihre Hand mich am Arm packen kann, verdreht sie die Augen, und ihre Lippen klappen auf. Ein Speichelfaden sickert ihr aus dem schlaffen Mundwinkel, und dann stürzt sie mir vor die Füße. Ihr Walkie-Talkie sagt: »Jeanie? Jean? Bitte kommen.«
    Die letzten Worte des Merzlieds ziehen mir durch den Kopf.
    Ich zähle 359, zähle 360, zähle 361 und gehe weiter, während Leute auf mich zu und an mir vorbeirennen. Eine Frau, die an einer Schnur einen Belichtungsmesser um den Hals hängen hat, sagt: »Hat jemand einen Krankenwagen gerufen?«
    Leute in Lumpen, die dick geschminkt sind und Wasser aus kleinen blauen Glasflaschen trinken, stehen vor mit irgendwelchem Müll beladenen Einkaufswagen, beleuchtet von Scheinwerfern und Reflektoren, und recken die Hälse, um dorthin zu sehen, wo ich eben noch gewesen bin. Am Bordstein stehen große Wohnwagen, dazwischen verbreiten Dieselgeneratoren ihren Gestank. Überall stehen halb volle Kaffeebecher herum.
    Ich zähle 378, zähle 379, zähle 380, steige über die Absperrung auf der anderen Seite und gehe weiter. Bis zur Redaktion sind es 412 Schritte. Im Aufzug herrscht schon übles Gedränge. In der fünften Etage versucht sich noch einer hineinzuquetschen.
    Ich bin an der Rückwand des Aufzugs eingeklemmt, und plötzlich wie ein Schweißausbruch sprudelt mein Kopf das Merzlied so heftig hervor, dass meine Lippen sich zu den Worten bewegen.
    Der Mann starrt uns an und tritt wie in Zeitlupe zurück. Bevor wir ihn zusammenbrechen sehen, gleitet die Tür zu, und wir fahren weiter aufwärts.
    In der Nachrichtenredaktion ist Henderson immer noch nicht da. Oliphant kommt zu mir, als ich gerade eine Nummer wähle. Er erzählt mir von dem Artikel über Duncan. Fragt nach Zitaten. Zeigt mir die Anzeige auf dem Belegbogen. Die mit dem French Salon, mit der rabiaten Gesichtskosmetik. Oliphant fragt, wo meine nächste Folge für die Krippentod-Serie bleibt.
    Das Telefon in der Hand, zähle ich 435, zähle 436, zähle 437 . . .
    Zu ihm sage ich, er solle mir bloß nicht auf den Wecker gehen.
    Im Telefon sagt eine Frauenstimme: »Maklerbüro Helen Boyle. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
    Und Oliphant sagt: »Zählen Sie mal bis zehn, das hilft.«
    Details zu Oliphant: Er ist fett; seine Hände haben braune Abdrücke auf den Belegbogen geschwitzt, den er mir zeigt. Sein Computerpasswort ist

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