Lullaby (DE)
wollen. »Du glaubst doch wohl nicht, dass Prostituierte außerhalb ihres Bordells noch viel Sex haben wollen, oder?«, sagt sie.
Sie sagt: »Was glaubst du, warum Bauunternehmer immer in unfertigen Häusern leben?«
Sie sagt: »Was glaubst du, warum Ärzte immer so krank sind?«
Sie zeigt auf die Ausgangstür und den Parkplatz draußen und sagt: »Der einzige Grund, warum ich Mona nicht schon hundertmal umgebracht habe, ist der, weil ich jeden Tag jemand anderes umbringe. Und ich bekomme eine ganze Menge Geld dafür bezahlt.«
Und ich frage, was sie von Monas Idee hält. Warum kann man die Macht nicht beherrschen, indem man die Menschen einfach so sehr liebt, dass man sie nicht umbringen will?
»Weil es hier nicht um Hass und Liebe geht«, sagt Helen. Es gehe um Kontrolle. Die Menschen setzen sich nicht hin und lesen ein Gedicht, um ihr Kind zu töten. Sie wollen nur, dass das Kind einschläft. Sie wollen nur Herrschaft ausüben. Egal wie sehr man einen anderen liebt, man will doch immer den eigenen Kopf durchsetzen.
Der Masochist drängt den Sadisten zur Tat. Der Passivste ist in Wahrheit ein Aggressor. Tag für Tag bedeutet allein die Tatsache, dass du lebst, Tod und Elend für jede Menge Tiere und Pflanzen – und auch einige Menschen. »Schlachthäuser, Massentierhaltung, Ausbeutung«, sagt sie, »ob es dir gefällt oder nicht, aber das ist es, was du für dein Geld bekommst.«
Und ich sage, sie hat zu lange diesem Oyster zugehört.
»Die Lösung besteht darin, Leute absichtlich zu töten«, sagt Helen und nimmt die Zeitung mit dem Foto von Gustave Brennan. Sie betrachtet es aus der Nähe und sagt: »Man bringt absichtlich Fremde um, damit man nicht versehentlich Menschen tötet, die man gern hat.«
Konstruktive Destruktion.
Sie sagt: »Ich bin selbstständige Unternehmerin.«
Sie ist eine internationale Auftragsmörderin, und ihr Lohn sind riesige Diamanten.
Helen sagt: »Regierungen tun das jeden Tag.«
Aber Regierungen tun es nach jahrelangen Erwägungen und nach einem ordentlichen Gerichtsverfahren, sage ich. Erst nach reiflicher Überlegung wird ein Verbrecher für so gefährlich erklärt, dass man ihn nicht mehr freilassen kann. Oder um ein Exempel zu statuieren. Oder aus Rache. Okay, das ist auch nicht in Ordnung. Aber wenigstens ist es nicht willkürlich.
Und Helen hält sich kurz eine Hand vor die Augen, um sie zu verbergen, und dann sieht sie mich an und sagt: »Was glaubst du wohl, wer mich mit diesen kleinen Jobs beauftragt?«
Das amerikanische Außenministerium?
»Gelegentlich«, sagt sie. »Aber meistens sind es andere Länder irgendwo auf der Welt, und ich mache es grundsätzlich nie umsonst.«
Daher also die Juwelen?
»Ich hasse es, um die Wechselkurse zu feilschen. Du nicht?«, sagt sie. »Im Übrigen muss für jede Mahlzeit, die du zu dir nimmst, ein Tier sterben.«
Wieder Oyster. Ich sehe schon, mir fällt die Aufgabe zu, ihn und Helen auseinander zu halten.
Ich sage, das sei was anderes. Menschen stehen höher als Tiere. Tiere wurden auf diesen Planeten gesetzt, damit der Mensch sich ihrer als Nahrung und Helfer bedienen könne. Menschen sind edel und klug und einzigartig, und Gott hat uns die Tiere geschenkt. Sie sind unser Eigentum.
»So musst du natürlich reden«, sagt Helen, »schließlich bist du ja auf der Seite der Sieger.«
Ich sage, konstruktive Destruktion sei nicht die Antwort, die ich gesucht habe.
Und Helen sagt: »Tut mir Leid, eine andere hab ich nicht.«
Sie sagt: »Holen wir das Buch, bringen es in Ordnung, und dann schießen wir uns einen leckeren Fasan zum Mittagessen.«
Ich frage den Bibliothekar, wo das Buch steht. Aber es ist ausgeliehen. Details zu dem Bibliothekar: Er hat aschblonde Strähnchen im Haar, und er hat sein Haar mit viel Gel zu einer stabilen Markise über dem Gesicht geformt. So etwas wie ein aschblonder Mützenschirm. Er sitzt auf einem Hocker hinter einem Computermonitor und riecht nach Zigarettenrauch. Er trägt einen Rollkragenpullover, an dem ein Namensschildchen aus Plastik angeheftet ist: »Symon.«
Ich sage, es hängen viele Menschenleben davon ab, dass ich dieses Buch finde.
Und er sagt, na, so ein Pech.
Und ich sage, nein, tatsächlich hänge nur sein Leben davon ab.
Und der Bibliothekar drückt auf einen Knopf an der Tastatur und sagt, er rufe jetzt die Polizei.
»Warten Sie«, sagt Helen und legt eine gespreizte Hand auf den Schalter. Ihre Finger funkeln und gleißen von all den Smaragden in Treppenschliff und
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