Lullaby (DE)
»Das ist mir neu.«
Ich frage, ob es darum geht, dass ich neben dem jungen Mann mit den Koteletten gestanden habe, der in der Bar an der Third Avenue gestorben ist.
»Aha«, sagt er. »Sie meinen Marty Latanzi.«
Ich frage, ob es darum geht, dass bei allen diesen toten Fotomodellen Sex post mortem festgestellt wurde, genau wie bei meiner Frau vor zwanzig Jahren. Und zweifellos hat man Filmaufnahmen von Überwachungskameras, die zeigen, wie ich mit einem Bibliothekar namens Symon rede und er im selben Moment tot umfällt.
Irgendwo hört man das hektische Kritzeln eines Bleistifts.
Und vom Telefon abgewendet höre ich jemanden sagen: »Halt ihn in der Leitung.«
Ich frage, ob das in Wirklichkeit ein Trick ist, mich wegen Mordverdachts festzunehmen.
Und Detective Danton sagt: »Sie wollen doch nicht per Haftbefehl gesucht werden.«
Je mehr Leute sterben, desto mehr bleibt alles beim Alten.
Officer Danton, sage ich. Ich frage, ob er mir sagen kann, wo ich ihn genau jetzt finden kann.
Knüppel und Steine brechen dir die Beine, aber nun geht’s wieder los. Schnell wie ein Schrei saust mir das Merzlied durch den Kopf, und plötzlich ist die Leitung tot.
Ich habe meinen Erlöser getötet. Detective Ben Danton. Ich habe mich noch weiter vom Rest der Menschheit entfernt.
Konstruktive Destruktion.
Oyster schüttelt sein Plastikfeuerzeug und schlägt es sich in die Handfläche. Dann gibt er es Helen und sieht zu, wie sie ein gefaltetes Blatt Papier aus der Handtasche nimmt. Sie zündet die Seite 27 an und hält sie über den Rinnstein.
Während Mona die Broschüre liest, hält Helen das brennende Papier an deren unteren Rand. Die Fotos von glücklichen, lächelnden Familien lodern auf, und Mona lässt sie kreischend fallen. Ohne die brennende Seite 27 loszulassen, tritt Helen die brennenden Familien in den Rinnstein. Das Feuer in ihrer Hand wird immer größer, die Flammen zucken und qualmen im Wind.
Und aus irgendeinem Grund muss ich an Nash und seine brennende Zündschnur denken.
Helen sagt: »Mit Spaß hab ich nichts am Hut.« Mit der anderen Hand hält sie mir die klingelnden Autoschlüssel hin.
Dann passiert es. Oyster schlingt von hinten einen Arm um Helens Kopf und reißt sie um. Und als sie mit den Armen ums Gleichgewicht rudert, schnappt er sich das brennende Gedicht. Das Merzlied.
Helen fällt auf die Knie, entwindet sich seinem Griff, stößt einen kleinen Schrei aus, weil sie mit den Knien auf den harten Bürgersteig schlägt, und stürzt dann in den Rinnstein. Die Schlüssel hält sie noch in der Faust.
Oyster versucht das brennende Papier auf seinem Oberschenkel auszuschlagen. Er nimmt es in beide Hände und liest hektisch mit hin und her zuckenden Augen, während von unten die Flammen hochzüngeln.
Die Flammen erfassen beide Hände, bevor er loslässt. »Nein!«, schreit er und steckt sich die Finger in den Mund.
Mona hält sich die Ohren zu und weicht zurück. Auch die Augen kneift sie zu.
Helen kniet auf allen vieren im Rinnstein neben den brennenden Familien und sieht zu Oyster hoch. Oyster ist praktisch schon tot. Helens Frisur hat sich aufgelöst, das rosa Haar hängt ihr in die Augen. Die Nylonstrümpfe sind zerrissen. Die Knie blutig.
»Bring ihn nicht um!«, schreit Mona. »Bring ihn nicht um, bitte! Bring ihn nicht um!«
Oyster sinkt auf die Knie und greift nach dem verbrannten Papier auf dem Bürgersteig.
Und langsam, so langsam wie der Stundenzeiger einer Uhr, steht Helen auf. Ihr Gesicht ist rot. Es ist nicht das Rot eines birmanischen Rubins. Eher das Rot des Bluts, das von ihren Knien rinnt.
Oyster auf den Knien. Helen aufrecht über ihm. Mona, die sich die Ohren zuhält und die Augen zukneift. Oyster, der in der Asche herumwühlt. Helen blutend. Und ich, ich beobachte das alles noch immer von der Telefonzelle aus, und vom Dach der Bücherei fliegt ein Schwarm Stare auf.
Oyster, der böse, aggressive, gewalttätige Sohn, den Helen haben könnte, wenn sie noch einen Sohn hätte.
Wieder der Griff nach der Macht.
»Tu’s doch«, sagt Oyster, er hebt den Kopf und sieht Helen in die Augen. Er lächelt mit schiefem Mund und sagt: »Du hast deinen echten Sohn umgebracht. Jetzt kannst du mich auch umbringen.«
Und dann passiert es. Helen schlägt ihm mit aller Kraft ins Gesicht, zieht ihm die Schlüssel, die sie mit der Faust umklammert, über beide Wangen. Und gleich darauf quillt noch mehr Blut.
Noch ein entstellter Parasit. Noch ein zerschrammter Kakerlakenschrank.
Und
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