Lullaby (DE)
Grimoire!«
Und während ich das Steuer zu halten versuche und der Wagen kreuz und quer über den Highway schlenkert, klappe ich das Handy zu.
36
Die Sauerei an der Decke in meiner Wohnung ist verschwunden; dort ist jetzt ein großer weißer Fleck. An die Wohnungstür ist ein Zettel von meinem Vermieter geheftet. Statt Lärm herrscht totale Stille. Der Teppich ist mit knirschenden Plastiksplittern übersät, zertrampelten Türen und Strebpfeilern. Man kann in jeder Glühbirne den Faden sirren hören. Man kann meine Armbanduhr ticken hören.
Die Milch in meinem Kühlschrank ist sauer geworden. All das Leid umsonst, all der Schmerz. Der große Klumpen Käse ist mit blauem Schimmel überzogen. Die Hamburger in der Plastikverpackung sind grau geworden. Die Eier sehen gut aus, sind es aber nicht, können es nicht sein, nicht nach so langer Zeit. All die Mühe und Not, die in diesen Nahrungsmitteln steckt, und jetzt wandert alles in den Müll. Die Beiträge all dieser unglücklichen Kühe und Kälber, und jetzt wird das alles weggeschmissen.
Auf dem Zettel meines Vermieters steht, dass der weiße Fleck an der Decke nur ein Voranstrich sei. Die ganze Decke solle erst gestrichen werden, wenn das Blut nicht mehr nachsickere. Damit der Voranstrich schneller trocknet, ist die Heizung voll aufgedreht. Das Wasser in der Toilette ist zur Hälfte verdampft. Die Pflanzen sind trocken wie Papier. Der Siphon unter der Küchenspüle ist halb leer, Faulgase blubbern hoch. Mein altes Leben, alles, was ich Zuhause nenne, stinkt nach Scheiße.
Der Voranstrich soll das, was von dem Nachbarn über mir noch übrig ist, nicht weiter durchsickern lassen.
Draußen in der Welt gibt es immer noch neununddreißig unerledigte Exemplare des Gedichtbands. In Bibliotheken, in Buchhandlungen, in Privathäusern. Plus/minus ein paar Dutzend, wer weiß das schon.
Helen ist heute im Büro. Dort habe ich sie verlassen, an ihrem Schreibtisch, umgeben von aufgeschlagenen Wörterbüchern, Griechisch, Latein, Sanskrit. Sie hat sich eine kleine Flasche Jod besorgt und streicht das Zeug mit einem Wattetupfer auf die Schrift, sodass die unsichtbaren Wörter rot werden.
Mit Wattetupfern streicht Helen den Saft eines Rotkohls auf andere unsichtbare Wörter und macht sie lila.
Neben den Fläschchen und Wattetupfern und Wörterbüchern liegt eine Lampe mit einem Griff, und von dort geht ein Kabel zu einer Steckdose in der Wand.
»Ein Fluoroskop«, sagt Helen. »Ausgeliehen.« Sie drückt auf einen Schalter an der Seite, hält die Lampe über das offene Grimoire und schlägt die Seiten um, bis sie auf eine stößt, die mit leuchtend rosa Wörtern bedeckt ist. »Das wurde mit Sperma geschrieben.«
Die Handschrift unterscheidet sich bei allen Zaubersprüchen.
Mona sitzt an ihrem Schreibtisch im Vorzimmer; sie hat seit dem Jahrmarkt kein freundliches Wort mehr gesagt. Im Polizeifunk wird ein Notruf nach dem anderen durchgegeben.
Helen ruft Mona zu: »Ein anderes Wort für ›Dämon‹?«
Und Mona sagt: »Helen Hoover Boyle.«
Helen sieht mich an und sagt: »Hast du die Zeitung von heute schon gesehen?« Sie schiebt ein paar Bücher beiseite, darunter liegt eine Zeitung. Sie blättert sie durch, und auf der letzten Seite des ersten Teils steht eine ganzseitige Anzeige. Die Überschrift lautet:
Achtung! Wer hat diesen Mann gesehen?
Den Großteil der Seite nimmt ein altes Foto ein, mein Hochzeitsfoto, ich und Gina vor zwanzig Jahren, lächelnd. Es muss aus unserer Hochzeitsanzeige in einer uralten Samstagsausgabe stammen. Die öffentliche Bekanntmachung unserer Zuneigung und Liebe. Unser Gelöbnis. Unsere Schwüre. Die alte Macht der Worte. Bis dass der Tod uns scheidet.
Darunter der Text: »Dieser Mann wird von der Polizei gesucht. Er soll in Zusammenhang mit mehreren Todesfällen in letzter Zeit befragt werden. Er ist vierzig Jahre alt, 1,78 Meter groß, wiegt 82 Kilo, hat braunes Haar und grüne Augen. Er ist nicht bewaffnet, wird aber als höchst gefährlich eingestuft.«
Der Mann auf dem Foto ist so jung und unschuldig. Das bin ich nicht. Die Frau ist tot. Die zwei Leute da sind Gespenster.
Unter dem Foto steht: »Zur Zeit tritt er unter dem Namen ›Carl Streator‹ auf. Er trägt häufig eine blaue Krawatte.«
Darunter steht: »Wenn Sie wissen, wo er sich aufhält, rufen Sie bitte die Polizei an.« Ob diese Anzeige von Oyster oder von der Polizei aufgegeben wurde, weiß ich nicht.
Helen und ich stehen da und sehen auf das Bild hinunter.
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