Lullaby (DE)
Helen sagt: »Deine Frau war sehr hübsch.«
Und ich sage, ja, das war sie.
Helens Finger, ihr gelbes Kostüm, ihr geschnitzter und polierter Schreibtisch, alles ist voller roter und violetter Flecken und Streifen, Rotkohlsud und Jod. Die Flecken riechen nach Ammoniak und Essig. Sie hält das Fluoroskop über das Buch und liest die alte Spermaschrift.
»Das hier ist ein Flugzauber«, sagt sie. »Und einer von denen da könnte ein Liebeszauber sein.« Sie blättert vor und zurück, und die Seiten riechen wie Kohlfürze oder Ammoniakpisse. »Das Merzlied«, sagt sie, »steht hier, in Alt-Zulu geschrieben.«
Im Vorzimmer spricht Mona ins Telefon.
Helen legt eine Hand auf meinen Arm und schiebt mich zurück, einen Schritt von ihrem Schreibtisch weg. Sie sagt: »Pass auf.« Und bleibt stehen, beide Hände an die Schläfen gepresst, die Augen geschlossen.
Ich frage, was denn jetzt passieren soll.
Im Vorzimmer beendet Mona ihr Telefonat.
Das Grimoire auf Helens Schreibtisch klappt auf und bewegt sich hin und her. Die eine Ecke hebt sich, dann die gegenüber liegende. Es schließt sich, klappt wieder auf, schließt sich und klappt wieder auf, schneller und immer schneller, bis es vom Schreibtisch aufsteigt. Helen hat die Augen immer noch geschlossen, ihre Lippen formen stumme Worte. Das Buch flattert schwankend umher, ein glänzender dunkler Star, der dicht unter der Decke schwebt.
Und der Polizeifunkscanner knistert und sagt: »Einheit siebzehn.« Er sagt: »Fahren Sie bitte zur Weeden Avenue Northeast Nummer 5680, Immobilienbüro Helen Boyle, verhaften Sie dort einen Mann und führen ihn zur Vernehmung vor ...«
Das Grimoire landet klatschend auf dem Schreibtisch. Jod, Ammoniak, Essig und Kohlsud spritzen umher. Zeitungen und Bücher segeln auf den Fußboden.
Helen schreit: »Mona!«
Und ich sage, bring sie nicht um, bitte. Bring sie nicht um.
Und Helen nimmt meine Hand in ihre fleckige und sagt: »Ich glaube, du solltest jetzt lieber gehen.« Sie sagt: »Weißt du noch, wo wir uns kennen gelernt haben?« Sie flüstert: »Da treffen wir uns heute Abend.«
Das Band in meinem Anrufbeantworter ist voll. Mein Briefkasten ist so mit Rechnungen voll gestopft, dass ich sie mit einem Buttermesser herausgraben muss.
Auf dem Küchentisch steht ein halb aufgebautes Einkaufszentrum. Auch ohne das Bild auf der Schachtel kann man erkennen, was das sein soll, weil die Parkplätze schon fertig sind. Die Mauern stehen. Fenster und Türen sind an einer Seite abgestellt, das Glas ist bereits eingesetzt. Die Dachplatten und die Aggregate der Klimaanlage sind noch in der Schachtel. Die Gartenanlagen befinden sich in einer verschweißten Plastiktüte.
Durch die Wohnungswände dringt nichts. Niemand. Nach Wochen mit Helen und Mona auf der Straße habe ich vergessen, welch kostbares Gut die Stille ist.
Ich schalte den Fernseher ein. Eine Schwarzweißkomödie, es geht um einen Mann, der als Maultier aus dem Reich der Toten zurückgekommen ist. Er soll jemandem etwas beibringen. Nur so kann er seine Seele retten. Der Geist eines Mannes im Körper eines Maultiers.
Mein Piepser meldet sich, die Polizei, meine Erlöser, sie hetzen mich zu meinem Seelenheil.
Polizei oder Verwalter, das Haus steht offenbar irgendwie unter Beobachtung.
Auf dem Fußboden, überall in den Zimmern, liegen die Trümmer einer Sägemühle herum. Die mit getrocknetem Blut besprenkelten Bruchstücke eines Bahnhofs. Milliarden Splitter eines zahnärztlichen Behandlungszentrums. Ein Flugzeughangar, zerschmettert. Ein Schiffsanleger, zertreten. All die blutbeschmierten Ruinen und Artefakte, die ich mit so viel Mühe zusammengesetzt hatte, das alles knirscht jetzt unter meinen Schuhsohlen. Was von meinem normalen Leben übrig ist.
Ich stelle den Radiowecker neben dem Bett an. Im Schneidersitz auf dem Boden, scharre ich die Überreste von Tankstellen, Leichenhallen, Hamburgerbuden und spanischen Klöstern zusammen. Ich häufe die mit Blut und Staub bedeckten Brocken auf, und das Radio spielt Bigband-Swing. Das Radio spielt keltischen Folk und Ghettorap und indische Sitarmusik. Vor mir liegen Bauteile für Sanatorien und Filmstudios, Getreidesilos und Ölraffinerien. Das Radio spielt elektronische Trancemusik, Reggae und Walzer. Vor mir liegen Teile von Kathedralen und Gefängnissen und Kasernen.
Mit Leim und einem kleinen Pinsel füge ich Schornsteine und Dachfenster und geodätische Kuppeln und Minarette zusammen. Römische Aquädukte stoßen auf
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