Lullaby (DE)
und mit strampelnden Beinen tritt sie es weg, und bei dem Gekreisch aus der Ferne bekommt niemand auf dem dunklen Parkplatz etwas davon mit.
Das ist mein Leben. Das ist die Tochter, von der ich wusste, dass ich sie eines Tages verlieren würde. Wegen eines Freundes. Wegen schlechter Noten. Drogen. Irgendwie kommt es immer zu diesem Bruch. Zu diesem Machtkampf. Egal was man sich einbildet, was für ein großartiger Vater man sein wird, irgendwann landet man immer genau hier.
Man kann den Menschen, die man liebt, Schlimmeres antun, als sie umzubringen.
Das Buch klatscht hin und wirbelt Staub und Kies auf.
Und ich schreie, dass Helen es aufheben soll.
Sobald Mona freikommt, weichen Helen und ich zurück. Helen mit dem Buch, ich umherblickend, ob jemand in der Nähe ist.
Mona steht mit geballten Fäusten vor uns, die rot-schwarzen Locken hängen ihr ins Gesicht. Das Gewirr der Silberketten und Talismane im Haar. Das fest um den Leib gezurrte orangefarbene Kleid, der Ausschnitt an einer Seite eingerissen, sodass die nackte Schulter zu sehen ist. Die Sandalen hat sie weggetreten, sie ist barfuß. Ihre Augen hinter den dunklen verfilzten Strähnen, ihre Augen spiegeln die Jahrmarktslichter, die fernen Schreie könnten das Echo der in ihrem Inneren gellenden Schreie sein.
Böse, so sieht sie aus. Eine böse Hexe. Eine Zauberin. Verdreht. Sie ist nicht mehr meine Tochter. Sie ist jetzt jemand, den ich nie verstehen werde. Eine Fremde.
Und durch die Zähne sagt sie: »Ich könnte euch umbringen. Ganz leicht.«
Und ich kämme mir mit den Fingern die Haare. Ich richte meine Krawatte und streiche mir das Hemd glatt. Ich zähle 1, zähle 2, zähle 3, und ich sage ihr: Nein, aber wir könnten sie umbringen. Ich sage ihr, sie soll sich bei Mrs. Boyle entschuldigen.
So was nennt man zähe Liebe.
Helen hält das Buch in ihren weiß behandschuhten Händen und sieht Mona an.
Mona sagt nichts.
Der Qualm der Dieselgeneratoren, die Schreie, die Rockmusik und die bunten Lichter tun ihr Bestes, die Stille auszufüllen. Die Sterne am Nachthimmel sagen kein Wort.
Helen dreht sich zu mir um und sagt: »Alles in Ordnung. Gehen wir.« Sie holt die Autoschlüssel hervor und gibt sie mir. Helen und ich, wir wenden uns ab und gehen davon. Aber als ich mich noch einmal umdrehe, sehe ich, wie Mona sich in die Hände lacht.
Sie lacht.
Mona hört auf zu lachen, weil ich sie angucke, aber ihr Lächeln ist noch da.
Und ich sage, sie soll das dämliche Grinsen lassen. Ich frage sie, was zum Teufel sie denn zu grinsen hat.
35
Ich fahre, Mona sitzt mit verschränkten Armen hinten. Helen ist neben mir auf dem Beifahrersitz, das Grimoire liegt aufgeschlagen auf ihrem Schoß, und sie hebt jede einzelne Seite ans Fenster, sodass das Sonnenlicht hindurchscheinen kann. Auf dem Sitz zwischen uns piept ihr Handy.
Zu Hause, sagt Helen, hat sie noch die ganzen Nachschlagewerke aus Basil Frankies Haus. Darunter auch Wörterbücher für Griechisch, Latein und Sanskrit. Bücher über Keilschrift. Tote Sprachen. Irgendwo in diesen Büchern wird sie etwas finden, womit sie das Grimoire übersetzen kann. Mit dem Merzlied als Schlüssel, als Stein von Rosetta, könnte sie die Sprüche alle übersetzen.
Und Helens Handy piept.
Im Rückspiegel bohrt Mona sich in der Nase und rollt den Popel auf ihrem Hosenbein dann zu einem festen dunklen Klümpchen. Sie hebt den Blick von ihrem Schoß und dreht langsam die Augen nach oben, bis sie Helens Hinterkopf im Visier hat.
Helens Handy piept.
Und Mona schnipst den Popel in Helens rosa Ballonfrisur.
Und Helens Handy piept. Weiter in das Grimoire vertieft, schiebt Helen das Handy über den Sitz, bis es an meinen Oberschenkel stößt, und sagt: »Sag denen, dass ich beschäftigt bin.«
Es könnte das Außenministerium mit dem nächsten Mordauftrag sein. Oder eine andere Regierung, die einen finsteren Job zu vergeben hat. Ein Drogenbaron, der zu beseitigen ist. Ein Berufsverbrecher, der in den Ruhestand zu versetzen ist.
Mona schlägt ihr in grünen Brokat gebundenes Spiegelbuch auf, ihr Hexentagebuch, und fängt an, mit Buntstiften darin herumzukritzeln.
Am Telefon ist eine Frau.
Eine Kundin, sage ich zu Helen. Ich halte das Handy an die Brust und sage, die Frau sagt, letzte Nacht sei ein abgetrennter Kopf bei ihr die Treppe hinuntergepoltert.
Ohne den Blick vom Grimoire zu wenden, sagt Helen: »Das müsste das Haus im holländischen Kolonialstil mit fünf Schlafzimmern am Feeney Drive sein.« Sie sagt:
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