Lullaby (DE)
»Ist der Kopf verschwunden, bevor er im Eingangsbereich gelandet ist?«
Ich frage.
Zu Helen sage ich, ja, er ist etwa auf halbem Weg nach unten verschwunden. Ein abscheulicher blutiger Kopf, ein lüsternes Grinsen im Gesicht.
Die Frau am Telefon sagt etwas.
Und eingeschlagene Zähne, sage ich. Sie wirkt sehr aufgeregt.
Mona kritzelt so heftig, dass die Stifte auf dem Papier quietschen.
Und ohne den Blick vom Grimoire zu wenden, sagt Helen: »Er ist verschwunden. Problem beseitigt.«
Die Frau am Telefon sagt, dass das jede Nacht geschehe.
»Dann soll sie den Kammerjäger holen«, sagt Helen. Sie hält die nächste Seite ins Sonnenlicht und sagt: »Sag ihr, ich bin nicht da.«
Das Bild, das Mona in ihr Spiegelbuch malt, sieht so aus: Ein Mann und eine Frau werden vom Blitz getroffen, von einem Panzer überfahren und verbluten durch ihre Augen. Das Gehirn spritzt ihnen aus den Ohren. Die Frau trägt ein maßges chneidertes Kostüm und jede Menge Schmuck. Der Mann eine blaue Krawatte.
Ich zähle 1, zähle 2, zähle 3 ...
Mona zerreißt den Mann und die Frau in schmale Streifen.
Wieder piept das Handy, und ich nehme ab.
Ich lege es mir an die Brust und sage zu Helen: ein Mann. Er sagt, aus seiner Dusche komme Blut.
Helen hält das Grimoire ans Fenster und sagt: »Das Haus mit sechs Schlafzimmern am Pender Court.«
Und Mona sagt: »Pender Place. Pender Court ist das mit der abgehackten Hand, die aus dem Müllschlucker gekrochen kommt.« Sie kurbelt das Fenster auf ihrer Seite etwas runter und fängt an, die geschredderte Zeichnung durch den Spalt zu schieben.
»Du meinst die abgehackte Hand in Palm Corners«, sagt Helen. »Pender Place ist das mit dem beißenden Phantom-Dobermann.«
Ich bitte den Mann am Telefon um etwas Geduld. Ich drücke auf den roten Knopf.
Mona verdreht die Augen und sagt: »Das Beißgespenst ist in dem spanischen Haus am Millstone Boulevard.« Sie schreibt etwas mit einem roten Filzstift, und zwar so, dass die Worte sich von der Blattmitte aus spiralförmig nach außen winden.
Ich zähle 9, zähle 10, zähle 11 ...
Helen blinzelt die schwache Schrift auf dem Blatt an, das sie gerade ans Fenster hält, und sagt: »Sag ihm, dass ich aus dem Immobiliengeschäft ausgestiegen bin.« Sie streicht mit dem Finger über die blassen Wörter und sagt: »Die Leute am Pender Court, die haben minderjährige Kinder, richtig?«
Ich frage, und der Mann am Telefon sagt Ja.
Und Helen dreht sich zu Mona um, die den nächsten Popel wegschnipst, und sagt zu mir: »Dann sag ihm, eine Badewanne voller Menschenblut ist noch das kleinste seiner Probleme.«
Ich frage, ob wir nicht einfach weiterfahren können. Ein paar Büchereien könnten wir noch schaffen. Uns noch was ansehen. Noch einen Jahrmarkt vielleicht. Ein Nationaldenkmal. Uns noch ein bisschen amüsieren, ein bisschen entspannen. Wir waren doch einmal eine Familie, wir könnten wieder eine sein. Wir haben uns doch noch gern, hypothetisch jedenfalls. Ich sage, na, was meint ihr?
Mona beugt sich vor und reißt mir ein paar Haare aus dem Kopf. Dann reißt sie Helen ein paar rosa Strähnen aus.
Und Helen duckt sich über das Grimoire und sagt: »Mona, das tut weh.«
In meiner Familie, sage ich, meine Eltern und ich, über einer spannenden Partie Mensch-ärgere-dich-nicht konnten wir fast jeden Streit vergessen.
Mona faltet die rosa und braunen Strähnen in das Blatt mit der Spiralschrift ein.
Und ich sage zu Mona, ich wolle bloß nicht, dass sie dieselben Fehler mache wie ich damals. Ich sehe sie im Rückspiegel an und sage, als ich in ihrem Alter war, habe ich aufgehört, mit meinen Eltern zu sprechen. Ich habe seit fast zwanzig Jahren nicht mehr mit ihnen gesprochen.
Und Mona steckt eine Stecknadel durch das gefaltete Papier mit unseren Haaren darin.
Wieder piept Helens Handy, und diesmal ist es ein Mann. Ein junger Mann.
Oyster. Und bevor ich auflegen kann, sagt er: »He, Dad, sieh zu, dass du morgen die Zeitung liest.« Er sagt: »Ich habe eine kleine Überraschung für dich reingesetzt.«
Er sagt: »Und jetzt lass mich mit Mulberry sprechen.«
Ich sage, sie heiß Mona. Mona Sabbat.
»Nein, Mona Steinner«, sagt Helen, die immer noch eine Seite des Grimoire an die Fensterscheibe hält, um die Geheimschrift zu entziffern.
Und Mona sagt: »Ist das Oyster?« Sie greift vom Rücksitz mit beiden Händen links und rechts an meinem Kopf vorbei, grabscht nach dem Handy und sagt: »Gib her.«
Sie schreit: »Oyster! Oyster, die haben das
Weitere Kostenlose Bücher