Lullaby (DE)
sich nach oben, meine Knie knicken ein.
So also fühlt es sich an, wenn man stirbt. Wenn man erlöst wird.
Aber inzwischen ist das Töten ein Reflex. Meine Lösung für alles.
Meine Knie knicken ein, und ich sinke in drei Phasen zu Boden, erst der Hintern, dann der Rücken, dann der Kopf.
Schnell wie ein Rülpser, ein Niesen, ein Gähnen aus meinem tiefsten Innern, so schnell schlägt mir das Merzlied durch den Kopf. Das Pulverfass meiner ganzen ungelösten Scheiße lässt mich nie im Stich.
Das Grau nimmt wieder Konturen an. Ich liege rücklings auf dem Kneipenboden und sehe den fettigen grauen Rauch unter der Decke wallen. Das Gesicht des Mannes auf dem Grill brät immer noch, man kann es hören.
Die Karte fällt Nash aus den Fingern und segelt auf den Tisch. Er dreht die Augen nach oben. Seine Schultern beben, mit dem Gesicht klatscht er in die Chilischüssel. Das rote Zeug spritzt in alle Richtungen. Sein Leib in der weißen Uniform krampft sich hoch und landet neben mir auf dem Boden. Seine Augen blicken in meine. Seine Gesicht ist voller Chili. Sein Pferdeschwanz, die kleine schwarze Palme auf dem Kopf, ist aufgegangen, die schwarzen Strähnen hängen ihm schlaff über Wangen und Stirn.
Er ist erlöst, aber ich bin es nicht.
Der fettige Rauch senkt sich über mich, vom Grill her brutzelt und zischt es. Ich hebe Nashs Karteikarte vom Boden auf. Ich halte sie über die Kerze, die auf dem Tisch steht, füge Rauch zu Rauch, beobachte, wie die Karte verbrennt.
Eine Sirene jault auf, der Rauchmelder, so laut, dass ich mich nicht mehr denken hören kann. Als ob ich jemals denken würde. Als ob ich jemals denken könnte. Die Sirene übertönt mich. Big Brother. Besetzt meinen Kopf, so wie ein Heer eine Stadt besetzt. Und ich sitze da und warte, dass die Polizei mich erlöst. Mich Gott übergibt, mich wieder mit der Menschheit vereint. Das Jaulen der Sirene löscht alles andere aus. Und ich bin froh darüber.
41
Die Polizei hat mir meine Rechte vorgelesen. Man hat mir die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt und mich zur Wache gefahren. Der erste Streifenpolizist, der am Tatort eingetroffen war, hatte nach einem Blick auf die Leichen gesagt: »Lieber, gütiger Gott.« Die Rettungssanitäter hatten den toten Koch vom Grill gewälzt und sich nach einem Blick in sein gebratenes Gesicht in die hohlen Hände gekotzt. Die Polizei hat mir ein Telefonat erlaubt, und ich habe Helen angerufen und ihr gesagt, entschuldige, aber es sei aus. Man habe mich verhaftet. Und Helen hat gesagt: »Keine Sorge. Ich hol dich da raus.« Man hat mir die Fingerabdrücke abgenommen und mich für die Verbrecherkartei fotografiert. Man hat meine Brieftasche, meine Schlüssel und meine Uhr konfisziert. Man hat meine Kleider, meine braune Sportjacke und die blaue Krawatte, in einen Plastiksack gesteckt, auf dem ein Zettel mit meiner neuen Verbrechernummer klebt. Die Polizei hat mich nackt durch einen kalten Betonkorridor in eine kalte Betonzelle geführt. Man hat mich mit einem bulligen, kurz geschorenen Wachmann mit Händen groß wie Fleischerpranken allein gelassen. Allein in einem Raum, in dem sich nichts außer einem Tisch, meinem Kleidersack und einem Topf Vaseline befindet.
Jetzt bin ich allein mit diesem ergrauten alten Ochsen. Er streift sich einen Latexhandschuh über und sagt: »Bitte drehen Sie sich zur Wand, beugen Sie sich vor und spreizen Sie mit den Händen die Arschbacken.«
Und ich sage: Was?
Und dieser finstere dicke Riese rührt mit zwei behandschuhten Fingern in dem Vaselinetopf herum und sagt: »Durchsuchung der Körperöffnungen.« Er sagt: »Drehen Sie sich um.«
Und ich zähle 1, zähle 2, zähle 3 ...
Und ich drehe mich um. Ich beuge mich nach vorn. Ich packe meine Arschbacken und ziehe sie auseinander.
Ich zähle 4, zähle 5, zähle 6 ...
Ich und mein Versagen im Ethikseminar. Genau wie Waltraud Wagner und Jeffrey Dahmer und Ted Bundy bin ich ein Serienmörder, und hiermit fängt meine Bestrafung an. Beweis meines freien Willens. Das hier ist mein Weg zur Erlösung.
Und die Stimme des Polizisten, ganz rau und nach Zigaretten riechend: »Standardmaßnahme bei allen Inhaftierten, die potenziell gefährlich sind.«
Ich zähle 7, zähle 8, zähle 9 ...
Und der Polizist knurrt: »Sie werden einen leichten Druck verspüren, also entspannen Sie sich einfach.«
Und ich zähle 10, zähle 11, zähle ...
Und verdammt.
Verdammt!
»Locker lassen«, sagt der Polizist.
Verdammt. Verdammt.
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