Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
festgefressen, und die Decke über unseren Köpfen war an
einigen Stellen ein Stück herabgesunken, als bestünde sie aus nichts weiter als
hauchdünnem Karton, der sich unter dem Gewicht angesammelten Regenwassers
durchbog. Nicht unbedingt ein vertrauenserweckender Unterschlupf. Hätte die
Krähe es tatsächlich darauf angelegt, hier einzudringen, wäre es ihr mit
Leichtigkeit gelungen, ein Fenster oder gar das Dach zu durchschlagen. Warum
also hatte sie es nicht getan?
»Ich
wünschte, ich könnte dir glauben«, sagte Kiro plötzlich und riss mich damit aus
meinen Gedanken. In seinen Worten lag ehrliches Bedauern. »Aber du hast dich
verändert, Laura. Ich weiß nicht mehr, ob ich dich überhaupt wiedererkenne.«
Unvermittelt
packte mich erneut der Zorn, und diesmal konnte ich ihn nicht mehr rechtzeitig
ersticken, ehe er an die Oberfläche schoss. »Verändert?«, zischte ich. »Woher
willst du das wissen? Du weißt nicht das Geringste über mich, Kiro. Wie
kannst du dir da ein Urteil über mich erlauben?«
Er
seufzte. »Siehst du, das meine ich damit. Du bist so zornig, so verbittert.«
»Ich
war schon immer verbittert!« Mit einem Ruck wandte ich mich ab, starrte
aus brennenden Augen an die Decke.
»Laura,
es … es tut mir leid, wenn ich …«
»Sei
still! Ich brauche dein Mitleid nicht. Und ich brauche auch dich nicht.
Niemanden, verstehst du das? Niemanden …«
Tatsächlich
verstummte Kiro gehorsam, aber nur für wenige Minuten. Ich sah ihn immer noch
nicht an, konnte aber hören, wie er näher rückte. »Du irrst dich«, ertönte
seine sanfte Stimme neben mir. »Jeder braucht jemanden, an den er sich anlehnen
kann. Freunde. Familie.«
Ich
schüttelte energisch den Kopf. »Was weißt du schon von Familie?«
Ich
spürte, wie Kiro zurückzuckte. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich sein
Gesicht wie unter Schmerzen verzog. Der Anblick erfüllte mich mit grimmiger
Befriedung. Warum sollte nur ich leiden?
Ich
begann, mit dem Zeigefinger sinnlose Linien und Bögen in den Staub vor meinen
Füßen zu zeichnen.
Nicht mehr lange , dachte ich plötzlich. Die
Zeit ist bald reif.
Doch
die Zeit wofür?
Nachdem
wir erneut eine halbe Ewigkeit in eisigem Schweigen zugebracht hatten,
räusperte Kiro sich unbehaglich. Widerwillig hob ich den Kopf und starrte ihn
an, während meine Hände fortfuhren, Figuren in den Staub zu malen.
»Was?«,
fragte ich patzig.
»Wir
sollten nicht so miteinander umspringen, meinst du nicht auch?«, fragte er
leise. »Nicht jetzt. Nicht hier.«
»Und
warum nicht?« Stur stülpte ich die Unterlippe vor.
»Weil
wir nicht wissen, ob es für uns jemals eine Gelegenheit geben wird, es
wiedergutzumachen. Dort draußen wartet der Tod auf uns, Laura. Vielleicht sogar
etwas viel Schlimmeres. Und letzten Endes …«, seine Hand fasste nach meiner, »…
haben wir doch nur uns beide.«
Ich
zog meine Hand ruckartig zurück. Kiro sah hinab, und unvermittelt weiteten sich
seine Augen.
»Was
ist das?«, hauchte er.
Ich
senkte den Blick – und zuckte so erschrocken zurück, als hätte ich auf eine
heiße Herdplatte gegriffen. Ohne mein Zutun waren meine Hände fortgefahren,
Symbole in die fingerdicke Staubschicht zu zeichnen. Einzeln wirkten sie
harmlos, nichts anderes als jene Kringel, die man zu zeichnen pflegte, wenn man
in Gedanken versunken war, doch in ihrer Gesamtheit waren sie …
Nein.
Mein Verstand weigerte sich schlichtweg zu ergreifen, was meine Augen zu
erfassen glaubten, und meine Gedanken konnten und wollten dieses obszöne
Gebilde nicht in Worte kleiden. Diese ganze Zeichnung in ihren Ausmaßen, ihren
Proportionen und Verhältnissen war einfach … unmöglich! Ich fand kein anderes
Wort dafür. Ich glaubte, Winkel zu entdecken, die zugleich stumpf wie spitz
endeten und auf krankhafte Weise in sich selbst gekrümmt schienen, Kreise mit
weniger oder mehr als dreihundertsechzig Grad, parallele Linien, die sich an
zahlreichen Stellen überschnitten oder sogar spitz aufeinander zuliefen und
andere, noch viel schlimmere Dinge, von deren bloßem Anblick mir schwindelte.
Es war, als versuchte man, sich einen eckigen Kreis vorzustellen – es ging ganz
einfach nicht, und wenn man sich zu lange darauf konzentrierte, verlor man den
Verstand.
»Himmel!«,
entfuhr es mir.
»Eher
ein paar Etagen tiefer«, murmelte Kiro verstört. »Was zur Hölle ist das?«
»Ich
… ich weiß es nicht«, stieß ich hervor. Mein Blick hatte sich an dem Symbol
geradezu festgesaugt, und obwohl sich
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