Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
beginnen.
Ohne
mich.
Schlendernden
Schrittes überquerte ich das Schulgelände, den Kopf zwischen die Schultern
gezogen, um mich vor dem stärksten Regenguss zu schützen. Es war empfindlich
kühl, und so zog ich mir rasch meine Weste über, die ich bislang um die Hüften
geschlungen gehabt hatte. Dabei nahm ich aus den Augenwinkeln einen schwarzen
Schemen wahr, der über mich hinwegglitt und hinter mir auf dem Dach der Schule
landete. Als ich mich automatisch danach umdrehte, erkannte ich einen
ungewöhnlich großen Raben, der mich aus bernsteinfarbenen Augen anstarrte. Ich
hatte selten einen Vogel bei einem solchen Wetter fliegen gesehen und blieb verwundert
stehen. Das Tier schüttelte sich, als wollte es seine Federn trocknen –
natürlich ein zweckloses Unterfangen – und stieß einen heiseren Schrei aus.
Schulterzuckend
wandte ich mich um und setzte meinen Weg fort. Noch nie in meinem Leben hatte
es mich so stark nach Hause gezogen wie in diesem Augenblick.
Gerade
hatte ich das schmiedeeiserne Tor des Schulgeländes durchschritten, als ein
schwarz gekleideter Mann um die Ecke bog. Seine Augen hatten dieselbe Farbe wie
die des Raben von zuvor, und sein vom Regen durchtränktes, langes Haar klebte
ihm in der Stirn. Wie seine Kleidung hatte es die Farbe von Kohle. Mit einem
seltsamen Grinsen hielt er direkt auf mich zu, und ich versuchte instinktiv,
ihm auszuweichen. Obwohl der Kerl dies sehr wohl bemerken musste, folgte er mir
unerbittlich.
»Bin
ich zu spät zum großen Event?«, rief er über das Rauschen des Regens hinweg.
»Nicht
doch, du kommst gerade rechtzeitig«, gab ich zurück, ohne ihn auch nur eine
Sekunde aus den Augen zu lassen. »In ein paar Minuten spielt die Band. Das darf
man nicht verpassen.«
»Und
wohin willst du dann?« Sein Grinsen stellte eine Reihe ungewöhnlich weißer
Zähne zur Schau.
So
unauffällig wie möglich trat ich ein paar Schritte zurück. Sofort schloss der Schwarzhaarige
zu mir auf.
»Ich
will nirgendwo hin. Wollte nur frische Luft schnappen.«
»Bei
diesem Wetter?«
»Ja.«
»Dann
hast du sicher nichts dagegen, wenn ich dich wieder hinein begleite?«
Ich
lächelte gequält. »Nicht doch. Du bist auch Schüler an dieser Schule?«
»Nein.
Nein, das nun nicht.«
»Ehemaliger
Schüler?«
Der
Schwarzhaarige grinste schweigend, und mir lief ein eiskalter Schauer über den
Rücken. Ich schluckte krampfhaft, suchte in den Augenwinkeln nach einem
Fluchtweg. Die Hand des Mannes war in die Tasche seines zerschlissenen
Ledermantels geglitten, und es gelang mir kaum, meinen Blick davon abzuwenden.
»Ich
muss jetzt wirklich wieder rein«, brachte ich hervor. »Mein Freund wartet
bestimmt schon auf mich. Er wird sich Sorgen machen, wenn ich so lange wegbleibe.«
»Natürlich.«
Ich konnte sehen, dass der Schwarzhaarige meiner Geschichte ebenso viel Glauben
schenkte wie Camryn zuvor.
War
er etwa näher gekommen? Er war ganz eindeutig näher gekommen. Meine
Hände ballten sich zu Fäusten und meine Beinmuskulatur spannte sich an. Mir
blieb keine andere Wahl, ich musste rennen. Rennen und beten, dass der Schwarzhaarige
schwerfälliger war, als er aussah.
»Da
bist du ja!«
Der
plötzliche Ruf ließ mich heftig zusammenzucken, und auch der Kopf des Schwarzhaarigen
fuhr ruckartig auf. Seine Zähne fletschten sich zu einem lautlosen Knurren.
Hinter
mir war ein junger Mann aufgetaucht, den ich noch nie in meinem Leben gesehen
hatte. Zuerst dachte ich, ich bildete mir die schlanke Gestalt bloß ein, die,
einem stillen Engel gleich, auf uns zugeschritten kam. Der Fremde schien von
innen heraus zu leuchten, und er strahlte eine angenehme Ruhe aus, die im
krassen Gegensatz zu meiner stetig wachsenden Angst stand.
Natürlich
handelte es sich bei dem Fremden um keinen tatsächlichen Engel, und doch war
dies die erste Bezeichnung, die mir bei seinem Anblick in den Sinn kam. Er
musste ungefähr in meinem Alter sein, seine Züge jedoch waren von einer
Erfahrung geprägt, die seine Jugend Lügen strafte. Er war sehr schlank und von
großem Wuchs, und sein Körper zeugte von einer versteckten Kraft. Sein sehr
blasses, fein geschnittenes Gesicht war von hellem Haar eingerahmt, das ihm bis
zu den Schultern reichte und in einem Farbton zwischen Weiß und Blond
angesiedelt war. Das einzig Dunkle an ihm waren seine Augen, die sich deutlich
vom Rest seines Gesichtes abhoben und mich sofort in ihren Bann zogen. Die Iris
hatte die eigenartigste Farbe, die ich jemals gesehen hatte, eine
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