Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
und belehrten, hatte in dieser Stadt
eine lange Tradition. Unbemerkt von den ›gewöhnlichen‹ Menschen fristeten wir
unser Dasein in Frieden und Harmonie, im Einklang mit uns selbst und unserer
Umwelt. Niemals hätte ein Magier es gewagt, Schaden zu verursachen oder Unruhe
zu stiften. Das Gleichgewicht der Kräfte zu erhalten, Gutes wie Böses zu dulden,
gehört zu unserer Philosophie, zu unserem ureigensten Glauben, ein Selbstverständnis
des Flusses der Welt, das uns gemeinsam mit unseren magischen Veranlagungen
bereits in die Wiege gelegt wird.
Dass
wir diese Regel praktisch mit der Muttermilch in uns aufsogen, hieß jedoch noch
lange nicht, dass wir sie nicht brechen konnten, wie ich sehr bald lernen
musste.
Ich
war noch nicht lange Mitglied des ›Zirkels‹, wie wir ihn selbst mit einem
gehörigen Maß an Selbstironie nannten, als das Unglück seinen Lauf nahm. Uns
drang zu Ohren, dass in einem der reichsten Bezirke der Stadt Unruhen
ausgebrochen waren – äußerst verstörende Unruhen. Es schien, als würden über
Nacht aus den Häusern der Reichen und vom Schicksal Begünstigten nach und nach
die Kinder verschwinden. Das Seltsame daran war jedoch nicht etwa das Verschwinden
selbst, sondern die Umstände, unter denen diese Verbrechen vonstattengingen.
Tatsächlich befanden sich die Opfer stets wohlbehütet in ihren eigenen vier
Wänden, bevor sie wie vom Erdboden verschluckt wurden. Es gab keinerlei Anzeichen
für einen Einbruch, Fenster und Türen waren verschlossen, manchmal sogar
verriegelt und mit komplizierten Alarmvorrichtungen gesichert. Nichtsdestotrotz
ereignete es sich immer häufiger, dass verzweifelte Eltern eines Morgens
erwachten und das noch immer verschlossene Kinderzimmer leer, das Bettchen
verwaist vorfanden. Auf Lösegeldforderungen oder andere Lebenszeichen des
Entführers wartete man vergebens.
Die
Polizei wusste diese Vorfälle nicht einzuordnen – wir schon. Als Magier war es
für uns offensichtlich, dass hier Kräfte am Werk waren, die über das
Weltverständnis gewöhnlicher Menschen hinausgingen. Warum jedoch ein Gelehrter
der alten Kunst solche Taten vollbringen sollte, war uns ein Rätsel. Jedem, der
sich den Fluss der Energie zunutze macht, der alles durchströmt und belebt, ist
klar, dass es ein Frevel ist, Leben ohne Grund zu nehmen, erst recht, wenn es
so unschuldiges Leben ist. Wir sahen es also als unsere Pflicht an,
einzugreifen, obgleich es all unseren Überzeugungen widersprach, uns in die
Geschicke der Welt einzumischen.
Da
wir uns gegenseitig blind vertrauten, war für uns offensichtlich, dass es sich
um keinen Verräter in unseren eigenen Reihen handeln konnte. Der Feind musste
von außen kommen, und genau dort suchte ich nach ihm.
Täglich
durchstreifte ich den betroffenen Bezirk, versuchte, eine Spur ausfindig zu
machen, die uns zu dem Verantwortlichen führen würde. Dieses Unterfangen jedoch
stellte sich schon sehr bald als gefährlich heraus, denn auf meinen
Kontrollgängen war ich nicht allein. Auch die Behörden steckten ihre Nasen tief
in diese schmutzige Angelegenheit, schnüffelten nach Hinweisen auf einen Schuldigen.
Daher musste ich neben meiner eigenen Patrouille obendrein darauf achten, nicht
selbst in den Schweinwerferkegel der Untersuchungen zu geraten. Meine magischen
Kräfte halfen mir dabei, unbemerkt zu bleiben, aber auch mein Widersacher
wusste sich seiner Fähigkeiten zu bedienen, und so hielten wir uns beide lange
Zeit bedeckt und blieben gleichermaßen unerkannt.
In
der Zwischenzeit spitzte sich die Lage in dem betroffenen Distrikt zu.
Mittlerweile gab es kein Kind mehr, das der Unbekannte zu sich hätte holen
können, stattdessen bediente er sich eines anderen Mittels, um die Bewohner der
Gegend zur Verzweiflung zu treiben.
Kaum
war das letzte Kind aus seinem warmen Bett in die Ungewissheit gezerrt worden,
begann die Rattenplage. Die Flut der braunen Leiber ergoss sich wie eine
biblische Heimsuchung in die gewundenen Straßen, und die Nager drangen
ungehindert in Gärten und Häuser ein, um dort Chaos und Verwüstung anzurichten.
Die Menschen fanden sie in ihren Schränken, ihren Betten, ihren Duschwannen.
Kein Platz war sicher vor den flinken Tieren, keine Spalte zu eng, keine Erhebung
zu hoch.
Meine
Freunde und ich waren sprachlos und entsetzt, über welche Macht dieser Magier
zu gebieten schien; noch fassungsloser waren wir darüber, wie hemmungslos er seine
Macht gebrauchte. Dass er damit die Existenz aller anderen Magier aufs
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