Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
am Dachboden geführt hatte – ohne
Fesseln zwar, doch mit Augen, die jede meiner Bewegungen aufmerksam verfolgten?
Zwei Stunden? Zwanzig? Zumindest musste es unendlich lange gewesen sein.
Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, hatte ich
gehört, wie Hansen magische Formeln gemurmelt hatte, um den Dachboden zu
versiegeln und auf diese Weise zu verhindern, dass ich mich eigenmächtig aus
meiner Kammer befreite. Sobald seine Schritte auf der Treppe verklungen gewesen
waren, hatte ich begonnen, wie ein Tiger im Käfig auf und ab zu laufen, die
Hände erhoben und versuchend, Magie heraufzubeschwören. Vergebens. Hansens
Kräfte waren zwar weit geringer als meine, doch das hinderte ihn nicht daran,
mich zu blockieren. Es ist immer einfacher, etwas zu zerstören, als etwas zu erschaffen.
Seither waren einige Stunden verstrichen. Nun stand
ich am einzigen Fenster dieses improvisierten Kerkers und beobachtete den
Regen, der die Welt mit unverminderter Heftigkeit beweinte. Meine anfängliche Rastlosigkeit
war einer schon fast unheimlichen Ruhe gewichen, ich sah die vor mir liegende
Aufgabe jetzt mit kristallener Klarheit.
Ich wandte mich vom Fenster ab, kehrte zurück in eine
finstere Ecke der Dachkammer und ging in die Knie, um einen schweren, dunklen
Gegenstand vom Boden aufzuheben: ein in schwarzes Leder gebundenes Buch mit aufgedruckter
Goldschrift. Immer noch kam es mir schier unglaublich vor, wie einfach es nach
all dem Ärger gewesen war, an den Folianten zu gelangen.
Da Kiro gegen einen Herz-Kreislauf-Stillstand gekämpft
und Hansen noch nicht anwesend gewesen war, als ich das Buch aus seinem
Versteck genommen hatte, wunderte sich keiner der beiden über die täuschend
echt wirkende Illusion, die ihnen vorgaukelte, dass der Band noch immer an
seinem Platz im Safe lag. Nach dem harten Training im Turm bereitete mir diese
Form der fortgeschrittenen Magie keinerlei Probleme. Das Original hatte ich
sorgfältig unter meinen Overall geschoben, während Kiro und Hansen sich – wie
nicht anders zu erwarten gewesen war – wegen meiner geplanten Gefangennahme in
die Haare gekriegt hatten und unaufmerksam gewesen waren.
Es war so leicht gewesen. So lächerlich leicht.
Dinge, die geschehen sollen, sind das meist.
Ich presste das Buch fest an die Brust wie eine Mutter
ihr Kind, spürte die Macht, die in pulsierenden Strömen aus den Seiten sickerte.
Wenn ich diese Welt nicht ihrem Schicksal überlassen wollte, war die
unerschöpfliche Energie dieses Buches einfach unverzichtbar. Das war mir klar geworden,
als mein Geist mit dem Seinen verschmolzen war und ich einen Einblick in Seine Gedanken und Gefühle gewonnen hatte, die sich nicht einmal so sehr
von denen normaler Menschen unterschieden. Er war nicht abgrundtief
böse, niemand war das. Im Grunde war Er nichts weiter als ein Magier,
der aus Verzweiflung den falschen Weg eingeschlagen hatte und irgendwann zu
weit gegangen gewesen war, als dass Er noch hätte umdrehen können.
Ich lächelte verhalten, als ich daran zurückdachte,
wie ich die Stunden meiner Gefangenschaft dazu genutzt hatte, in dem Band zu
lesen, und was ich ihm entnommen hatte. Andreas hatte mir einiges anvertraut,
aber noch weit mehr hatte er den Seiten dieses Bandes zugeflüstert, in der
alten Sprache, sodass es Hansen wohl all die Jahre nicht gelungen war, das
Schreiben vollständig zu entziffern. Mir war es gelungen, ich kannte die
Wahrheit.
Sorgsam darauf bedacht, die Seiten des
jahrhundertealten Bandes nicht zu beschädigen, schob ich das Buch erneut unter
das Oberteil meines Overalls. Ich fühlte mich nun erholt genug, um einen
Fluchtversuch zu wagen. Zurück am Fenster warf ich noch einmal einen letzten
Blick hinaus. Vier, vielleicht fünf Meter unter mir erstreckte sich eine weite
Fläche ehemals lebendig grünen Grases, von den Schatten der undurchdringlichen
Wolkendecke nun in tiefes, bedrohliches Schwarz getaucht und selbst mit
geschärften Augen nur schwach zu erahnen.
Riskant. Sehr riskant, doch mit etwas Glück durchaus
zu schaffen.
Zumindest hoffte ich das inständig.
Ich legte behutsam die flache Hand auf die Scheibe und
lächelte dünn, als es mir problemlos gelang. Hansen war ein Narr. Er hatte die
Tür mit einem Schutzzauber belegt, nicht aber das Fenster. Noch immer beging er
den schweren Fehler, mich zu unterschätzen. Nur weil ich hier drinnen keine
Magie wirken konnte, bedeutete das noch lange nicht, dass ich außer Gefecht
gesetzt war.
Ich atmete noch einmal tief ein,
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