Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
Bände aus und zog ihn vorsichtig
zwischen den anderen Büchern hervor. Als sie versuchte, ihn aufzuschlagen,
zerfiel er in ihren Händen zu Staub. Mit einer bedächtigen Bewegung blies sie
die Überreste des Folianten von ihren Handflächen.
»Ist
es nicht traurig, dass alles Schöne so vergänglich ist?«
Betrübt
blickte Hansen auf das Häufchen Dreck herab, an dem absolut nichts mehr an
seine ursprüngliche Form erinnerte.
»Es
ist dasselbe wie in allen Häusern dieser Straße«, fuhr Eloin gedankenverloren
fort, während sie weiter die Regale abschritt und scheinbar die Titel auf den
Buchrücken las – was eigentlich gar nicht möglich war, da die Schrift bereits
abblätterte und kaum mehr zu entziffern war. »Alles ist schön und imposant –
aber auch alt und vergänglich. Niemand lebt mehr hier, um sich um all das zu kümmern,
und so verfällt die Pracht mit der Zeit«, sie nahm ein weiteres Buch aus dem
Regal, das das Schicksal seines Vorgängers beinahe augenblicklich teilte, »und
Staub wird wieder zu Staub.«
»Die
Zeit lässt sich nicht aufhalten, Eloin«, erwiderte Hansen leise und starrte
dabei auf die weißen Strähnen in ihrem üppigen Haar.
»Und
unsere Zeit ist bald abgelaufen, ich weiß.« Sie lächelte verzeihend, als hätte
der Arzt soeben etwas sehr Dummes gesagt. »Fürchtest du den Fluss der Zeit,
mein Freund? Fürchtest du das Ende?«
»Wer
tut das nicht?«, antwortete er ausweichend.
»Ist
es die Furcht, die dich dazu treibt, gegen das Schicksal selbst aufzubegehren?«
Hansen, dessen Vorrat an Geduld sich allmählich dem Ende zuneigte, setzte zu
einer zornigen Erwiderung an, doch Eloin ließ ihn gar nicht zu Wort kommen.
»Bei mir zumindest ist es so. Es ist die Angst, die mich treibt – und ein
grausames Schuldgefühl, das mich fast zwanzig Jahre lang bis in meine Albträume
hinein verfolgte.«
»Zurecht«,
würgte Hansen hervor.
Eloin
senkte den Kopf, sodass er den schneeweißen Ansatz ihres ergrauenden Haares
besser sehen konnte. »Ja, zurecht. Aber nun ist es an der Zeit, all diese
blockierenden Ängste und Sorgen abzustreifen. Wir stehen nun einer Aufgabe
gegenüber, die sich nur dann erfüllen lässt, wenn wir all unsere Bedenken,
sogar unseren ureigensten Selbstschutz aufgeben und uns blindlings in das Auge
des Todes stürzen. Ich muss sichergehen, dass ihr bereit seid, so weit zu gehen
– andernfalls hätte nichts von dem, was wir zu tun im Begriff sind, einen
Sinn.«
»Was
zu tun sind wir denn im Begriff?«, wich Hansen Eloins indirekt gestellter Frage
aus.
Eloins
Züge erweichten sich nachsichtig und verständnisvoll, als sie ihn mit ihren
allumfassenden, mütterlichen Blicken bedachte. »Dass dir dieses Eingeständnis
von uns allen am schwersten fällt, weiß ich nur zu gut, mein alter Freund.«
Hansen
ballte verärgert die Fäuste. »Du hältst mich also für das schwächste Glied, ist
es das, was du sagen willst?« Nicht die Tatsache, dass Eloin ihn so sehen
könnte, sondern vielmehr die nicht abzustreitende Möglichkeit, dass diese
Einschätzung der Wahrheit entsprach, machte Hansen unvorstellbar wütend.
»Ich
halte dich nicht für schwach, Johannes«, gab Eloin ruhig zurück. »Im Gegenteil,
ich beneide dich für den festen Stand, den du in dieser Welt hast und der sich
durch nichts erschüttern lässt. Aber einem Menschen wie du, der so viel zu
verlieren hat, fällt es schwerer loszulassen als jenen unter uns, denen bereits
alles lange zuvor durch die Finger geglitten ist.«
Bei
diesen Worten nickte Kiro düster.
Hansen
schluckte. »Mir ist mein Leben schon vor langer Zeit aus den Händen gerutscht,
Eloin. Ich habe es im selben Moment verloren, als ich sie verlor.«
Eloins
Hand berührte seinen Arm, zart wie ein Windhauch. »Auch ich habe Miranda hoch geschätzt.
Wir werden es für sie gewinnen. Für sie und all die anderen armen Seelen, die
der Sturm des Schicksals davongetragen und zerrissen hat.«
Hastig
wandte Hansen das Gesicht ab, um die Feuchtigkeit in seinen Augen vor Eloin zu
verbergen. »Für sie. Für Andreas.«
»Für
Laura«, sagte Kiro plötzlich. Hansen sah den Jungen überrascht an, auf dessen
Gesicht sich grimmige Entschlossenheit abzeichnete.
»Lasst
uns nicht nur für die Toten kämpfen«, fügte Kiro etwas leiser hinzu, und sein
Blick flackerte vor Schmerz. »Sondern auch für jene, die noch gerettet werden
können.«
Hansen
hatte den Eindruck, als wäre ihm diese Erklärung erst in den Sinn gekommen,
nachdem er das Mädchen in
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