Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 06 - Der Tröster
Beruf war es zu heilen. Dass das manchmal schief ging, war unvermeidlich. Die Arbeit in der Krankenpflege war schwierig und anspruchsvoll, Kommunikation und Routinen waren gelegentlich sehr komplex. Fehler und Todesfälle waren nicht ausgeschlossen. Wie hätte man das auch verhindern wollen? Wie ließ sich der Gesundheitssektor besser und sicherer gestalten?
Jedenfalls nicht, indem man Einzelne verurteilte! Nicht indem man in erster Linie fragte, wer was getan hatte, sondern indem man fragte, was überhaupt vorgefallen war, um die Ursachen zu ermitteln.
Aber das Bedürfnis, einen Schuldigen zu finden, war offenbar bei den Menschen tief verwurzelt. Einen Sündenbock. Und jetzt war sie selbst an der Reihe.
Sie beschloss, nicht nachzugeben. Es gab nichts, wofür sie sich hätte schämen müssen, sie hatte nur ihre Arbeit gemacht. Schon vor vielen Jahren hatte sie sich von dem Gedanken verabschiedet, dass ausgerechnet sie ohne Komplikationen durchkommen würde. Das war eine Utopie. Wer keine Rückschläge einstecken konnte, konnte nicht als Chirurg arbeiten.
Man lernte dazu, nicht zuletzt durch Komplikationen wurde man im Laufe der Jahre sicherer, und man lernte, Probleme zu bewältigen.
Leider lassen sich die Toten nicht wieder zum Leben erwecken, dachte Veronika und erhob sich. Sie ging auf die Toilette und anschließend in die Personalküche, um ein Glas Wasser zu trinken. Wir müssen noch einmal durchdenken, zu welchem Zeitpunkt Patienten von der Intensivstation verlegt werden dürfen, dachte sie und goss das Wasser aus. Es schmeckte nach Chlor. Sie öffnete den Kühlschrank und nahm den Apfelsaft heraus. Die klinikinterne Ermittlung wird vermutlich zu diesem Schluss kommen, dachte sie und trank einen Schluck Saft. Sie wusste, dass die Statistik auf eine erhöhte Mortalität von Patienten hindeutete, die gerade verlegt worden waren, vor allen Dingen von solchen, die an Atemstörungen litten.
Würde man das gegen sie verwenden können? Bei diesem Gedanken zuckte sie zusammen. Sie stützte sich an der Spüle ab und drückte das Glas an Lippen und Kinn. Auf der Intensivstation wurde jeder Atemzug überwacht, aber auf der Station lagen dieselben Patienten ohne Überwachung, die Kohlendioxidkonzentration im Blut nahm zu, und im schlimmsten Fall schliefen sie für immer ein. Eine Station für nicht ganz so schwere Fälle für den Übergang wäre gut, dachte sie. Das musste sie vorschlagen. Oder dass sich die Intensivschwestern auch noch um ihre Patienten kümmerten, wenn sie auf der Station lagen. Vielleicht hätte sich jemand besser um Charlotte Eriksson kümmern müssen?
Am Morgen war sie zum Briefkasten gerannt und hatte noch im Garten die Lokalzeitung durchgeblättert. Keine Zeile über eine Anzeige gegen eine Ärztin. Im Laufe des Tages würden die Abendzeitungen erscheinen. Hatte sie Glück, stand auch darin nichts. Ein Schicksal im kleinen Oskarshamn dürfte die großen Zeitungen kaum interessieren.
Aber sie bereitete sich auf das Schlimmste vor. Sie sah bereits die Schlagzeilen der im Kiosk im Entree und in der Cafeteria ausliegenden Zeitungen vor sich.
Dann war es an der Zeit, die nächste Patientin zu holen, die entlassen werden sollte. Sie verließ das Personalzimmer und kam an der offenen Tür des Spülraums vorbei. Die neue Pflegehelferin Sara-Ida unterhielt sich mit Harriet. Veronika blieb abrupt stehen, trat ein paar Schritte zurück und sah Harriet an, die an der Spüle lehnte.
»Was ist?«, wollte Harriet wissen, richtete sich auf und strich ihren Kittel glatt.
Veronika zögerte. Sie hätte der netten Harriet und der jungen, unschuldigen Sara-Ida gerne ihr Herz ausgeschüttet. Sie wollte sich jemandem anvertrauen. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass Sara-Ida und sie irgendwie zusammengehörten. Das, was nicht hatte geschehen dürfen und trotzdem passiert war, verband sie. Sie waren beide auf unterschiedliche Art in den Todesfall verwickelt. Denn Sara-Ida hatte eigentlich überhaupt nichts mit Charlotte Erikssons Tod zu tun.
»Nein, nichts«, erwiderte sie und setzte ihren Weg fort.
Sie holte die sechzigjährige Patientin ab, der die Gallenblase entfernt worden war. Sie schaute auf die Uhr und hoffte, die Sekretärin würde ihr bald die Post bringen.
Die Entlassung ging rasch. Das Telefon klingelte, als sie gerade dabei war, die Krankmeldung zu schreiben. Sie entschuldigte sich und griff zum Hörer. Es war Claes.
»Ich habe nachgeforscht, weshalb so ein verdammter Journalist vor den
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