Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 06 - Der Tröster
die in der Nacht von Freitag auf Samstag in Oskarshamn angeschossen worden ist, ist verstorben. Sie wurde sofort operiert und schwebte nicht mehr in Lebensgefahr. Dennoch wurde sie heute in ihrem Krankenhausbett tot aufgefunden. Die Gründe ihres Ablebens sind noch nicht geklärt. Was den Mordversuch angeht, wurden polizeiliche Ermittlungen eingeleitet.«
Auf dem Fahrrad sagte Veronika sich die Worte des Nachrichtensprechers ein weiteres Mal vor. Sie wiederholte auch den Auszug eines Artikels aus der heutigen Zeitung. Sie hatte ihn mit klopfendem Herzen überflogen. Von einem verantwortlichen Arzt war nicht die Rede gewesen. Auch nicht von einer missglückten Operation. In dem Artikel hatte überhaupt nichts Negatives über das Krankenhaus gestanden. Der Text hatte jedoch alle Deutungsmöglichkeiten offen gelassen.
»Der Mann kann einem leidtun«, hatte Claes am Küchentisch gemeint und noch hinzugefügt, sie habe keinen Grund, sich zu verstecken. Sie habe weder etwas getan, wofür sie sich schämen müsse, noch etwas Ungesetzliches. Im Gegenteil. Sie habe die besten Absichten gehabt, obwohl das Resultat nicht wie gewünscht ausgefallen sei.
Nein, wirklich nicht! Allerdings zählte nur das Resultat!
Claes hatte ihr Mut gemacht. Immer wieder. Sie rief sich die Stimmen ihrer Eltern ins Gedächtnis, als sie auf der Geraden vor der Abzweigung nach Norrby und Döderhult beschleunigte. Du hast dir nichts vorzuwerfen, meine Kleine, hätte ihr Vater gesagt, wenn er noch am Leben gewesen wäre. Sie verschaffte sich alle Rückendeckung, die sie bekommen konnte. Legte sich ihre Verteidigung zurecht. Nahm sich vor, nicht einzuknicken. Er hat Recht, dachte sie. Ich habe keinen Grund, mir Vorwürfe zu machen, auch wenn es mein Fehler gewesen sein sollte. Ich habe das nicht gewollt. Ich wollte helfen, nicht schaden. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie verspürte Angst, Wut, Scham.
Aber sie war nicht allein. Dadurch, dass ihre Kollegen auf ihrer Seite waren, fühlte sie sich nicht in gleichem Maße exponiert. Die Situation, in der sie sich befand, war ihr nicht unbekannt. Alle hatten Angst, Fehler zu machen, die nicht wiedergutzumachen waren.
Was hatte sie übersehen? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Die ganze Nacht hatte sie operiert und anschließend zu Hause wach gelegen, war aber natürlich zu keinem Ergebnis gekommen. Sie war den Eingriff Schritt für Schritt bis ins kleinste Detail durchgegangen und hatte schon Daniel Skotte anrufen wollen, sich dann aber doch zurückgehalten. Sie hatte ihn schließlich nicht mitten in der Nacht noch mehr aus der Ruhe bringen wollen.
Sie trat in die Pedale. Obwohl sie ihren Grübeleien eine Pause gönnen und abwarten sollte, versuchte sie zu rekapitulieren, was sie diktiert hatte. Sie hatte die Abschrift des Operationsberichts noch nicht gesehen, und das stresste sie. Vielleicht war das Band noch gar nicht abgetippt worden, oder der Bericht wartete darauf, von ihr abgezeichnet zu werden. letzt würde sie alles genau überprüfen.
»Kommt schon wieder in die Reihe«, hatte Claes als Letztes zu ihr gesagt.
Aber er irrte sich. Das kommt nicht in die Reihe, dachte sie. Tote stehen nicht wieder auf.
Sie wünschte sich, abgeklärter und selbstbewusster zu sein und weniger empfindlich. Es sei unpassend, dass Frauen Chirurginnen würden, hatte einer der Ärzte gesagt, nachdem sie ihre lange Facharztausbildung absolviert hatte. Sie seien viel zu sensibel. Er hatte auf jeden Fall Unrecht.
Sie erinnerte sich an die ersten Jahre. Damals war sie nach fast jeder Operation nervös gewesen. Sie hatte sich erst über ihre gute Arbeit freuen können, wenn der Patient entlassen worden war und die obligatorische Kontrolluntersuchung hinter sich gebracht hatte. Jede Komplikation hatte sie als persönliches Versagen gewertet, sogar die vorhersehbaren, die niemandem erspart blieben, beispielsweise einfachere Wundinfektionen oder Hämatome. In ihrer Naivität und Unsicherheit, vielleicht auch ihrer Selbstüberschätzung, hatte sie sich ausschließlich Erfolge gewünscht. Die Genesung der Patienten hatte sie für sich, nicht um der Patienten willen gebraucht.
Als sie ihren ersten Rückschlag erlitten hatte, war sie untröstlich gewesen. Es hatte sich um einen ganz normalen Blinddarm gehandelt. Aber Blinddärme konnten heimtückisch sein, das wussten alle Chirurgen. Die junge Frau, deren Blinddarm sich nach der Abiturprüfung entzündet hatte, hatte nach der Operation eine Bauchfellentzündung
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