Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 07 - Tödliche Geschäfte
einmal auf einem Foto gesehen hatte. Es hatte sich zitternd an die große Eisbärenmama gedrückt. Die Mama hatte erschossen auf dem Eis gelegen. Sie würde nie mehr aufstehen, um sich um ihr Junges zu kümmern.
Ihre eigene Mutter hatte immer gesagt, sie hätte keine Zeit für sie. Sie arbeitete in einem Café, oder sie hatte Kopfschmerzen und musste ruhen, oder sie war down und musste sich mit einem Tropfen trösten, wie sie das ausdrückte. Dann wurde sie komisch, torkelte herum, sang falsch und laut, bis ihr Annelie ins Bett half, damit sie nicht die Nachbarn weckte. Falls sie nicht schon vorher auf dem Boden zusammengesackt war.
Annelie dachte, dass sie eigentlich lernen müsste, wie man aufgab, denn das konnte sie nicht sonderlich gut. Die Sturheit war ein Teil ihrer Persönlichkeit geworden. Sie konnte weder ihre Mutter noch Christoffer aufgeben.
27
Christoffer Daun verließ den OP-Bereich und ging in die Notaufnahme, um sein Postfach zu leeren.
Er öffnete den letzten braunen Hauspostumschlag mit dem Zeigefinger. Ein weiteres Dokument über die patientenbezogene Beratung, das er unterzeichnete und auf den Stapel für das Archiv legte. Dann öffnete er einen weißen Umschlag. Reklame für ein neues Blutdruckmittel, die er direkt in den Papierkorb warf. Solche Medikamente verschrieb er ohnehin kaum. Er merkte sich den Namen. Seiner Allgemeinbildung konnte das nicht schaden. Wenn er mehr wissen wollte, konnte er in der Roten Liste nachschauen.
Ganz unten lag ein kleiner weißer Umschlag. Büttenpapier, auf den sein Name mit richtiger Tinte geschrieben war. Papiermanufaktur Lessebo, dachte er, öffnete den Umschlag und zog eine Briefkarte mit Wasserzeichen heraus. Alles war mit so großer Sorgfalt gemacht, dass es schon fast zu viel war, aber irgendwie fand er das rührend.
Jemand wollte ihm mit dem Bild einer Rose danken, naive Kunst, die Konturen in schwarzer Tusche, sonst rote Wachsmalkreide und grüner Stiel. Zwei Zeilen Text, was für ein fantastischer Arzt er war. Genau das, was er an einem Tag wie diesem brauchte.
Der Name sagte ihm nichts, er wusste nicht, um welche Patientin es sich handelte. Er musste das später am Computer überprüfen. Er steckte den Brief in die Tasche seiner Jeans und ging ins Treppenhaus. Er musste einen Patienten entlassen.
Als das erledigt war, fiel ihm der Brief wieder ein, und er rief am Computer die Krankenakte seiner Bewunderin auf. Plötzlich erinnerte er sich an sie, als wäre das alles erst gestern gewesen. Was für ein Fall!
Eine Frau, die zehn Jahre älter war als er, war beim Aussteigen mit dem Mantel in der Autotür hängen geblieben und dann etliche Meter mitgeschleift worden, bevor ihr Mann endlich angehalten hatte. Christoffer fragte sich, ob der Ehemann blind und taub war. Die Frau hatte sehr großes Glück gehabt, denn sie war nicht unter die Hinterachse geraten. Außerdem hatte sie sich nichts gebrochen, aber sie hatte unzählige Blutergüsse und eine leichtere Gehirnerschütterung davongetragen. Sie hatte unentwegt geweint – aus Dankbarkeit –, weil sie so nett zu ihr gewesen waren. Eine Schwester hatte ihre Blessuren behandelt und verpflastert. Vermutlich war sie es nicht gewohnt, dass andere Menschen nett zu ihr waren. Viele hatten sich damit abgefunden, an der kurzen Leine gehalten zu werden.
Anschließend hatte die Frau zu ihm gesagt, dass ihr Leben nicht so weitergehen würde wie bisher. Die Schwester und er kannten diese Reaktion. Wenn man dem Tode einmal so nahe war und ihm dann doch noch von der Schippe springen konnte, lag es auf der Hand, dass man die Zukunft verändern wollte. »Ich frage mich, wie lange sie noch mit diesem Mann zusammenleben will«, meinte die Krankenschwester lapidar. Es war Birgitta Olsson, wenn er sich recht erinnerte.
Er hätte gerne zum Telefonhörer gegriffen und gefragt. Aber er wurde mit so vielen Schicksalen konfrontiert, dass seine Neugier stark nachgelassen hatte. Obwohl er der »Erlösertyp« oder ein richtiger »Menschenjunkie« war, wie Veronika einmal im Scherz gesagt hatte, konnte er sich nicht auch noch nach der Entlassung um alle Patienten kümmern.
Es klopfte, er erhob sich und öffnete die Tür. Eine Patientin stand in kompletter Garderobe auf dem Korridor und fragte, ob sie nach Hause gehen könnte. Sie war dunkelhaarig, schlank, hübsch und trug modische weite Jeans und einen rosa Kaschmirpullover. Der Lippenstift hatte dieselbe Farbe.
Er riet ihr, in der ersten Zeit nicht schwer zu heben, und
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