Lust kennt kein Tabu
manchmal das Gefühl es wäre erst gestern geschehen. Und vielleicht war es sogar besser, wennsie allein, in stillem Gedenken, vor dem Grab stehen und mit ihren Eltern Zwiesprache halten würde.
Vor jenem schrecklichen Tag waren sie fünfundzwanzig Jahre lang verheiratet gewesen – und viel zu jung gestorben. Mit neunundvierzig. Dass sie gemeinsam den Tod gefunden hatten, war der einzige Lichtblick.
„Hey, Mom, hey, Dad“, flüsterte Zienna und steckte das Metallgestell des Blumenarrangements möglichst tief in die Erde des Grabs, um es sicher zu verankern.
Dann trat sie zurück, betrachtete ihr Werk und lächelte schwach. Teure Blumen. Aber sie waren ihren Preis wert. Fast hundert weiße Rosen, in der Form eines Herzens gestaltet. Das passte zu Ziennas Gefühlen für ihre Eltern. Und zu der Liebe, die beide verbunden hatte.
Zufrieden setzte sie sich ins Gras vor dem Grab, im Schatten von Weidenzweigen. Nicht weit entfernt lag ein Teich. Der Graceland Friedhof war schön und idyllisch, und die gepflegte Umgebung schenkte ihr trotz aller Trauer eine gewisse innere Ruhe.
„Wow“, murmelte sie. „Zehn Jahre ist es schon her. Kaum zu fassen. Vor zehn Jahren habt ihr mich verlassen.“ Seufzend schlang sie ihre Arme um die angezogenen Knie. „Ich kann gar nicht glauben, wie lange ich schon ohne euch lebe …“
Bis sie weitersprach, dauerte es eine Weile.
„Ich hätte euch wirklich noch gebraucht.“
Ja, sie brauchte jemandem, mit dem sie über das Leben und die Liebe reden konnte. Nicht nur Alexis. Dafür hätte sich Ziennas Schwester geeignet, wäre sie nicht verschwunden – selber unfähig, den schmerzlichen Verlust zu verkraften.
„So innig hat euch diese innige Liebe vereint. Sicher war nicht alles perfekt. Aber ihr habt für immer zueinander gehört.“ Nach einer kleinen Pause fuhr Zienna fort: „Von da oben aus habt ihr wahrscheinlich beobachtet, in was für eine unerträgliche Situation ich geraten bin. Zwei Männer. Vielleicht schämt ihr euch für mich. Aber ich hatte das nicht geplant. Keine Ahnung, warum ich das mache. Es ist schrecklich. Aber … Immer wollte ich Wendell. Immer. Irgendwas in meinem Innern sagte mir, er wäre genau der Richtige für mich. Doch dann brach er mir das Herz, und ich musste weiterleben. Dass ich eine Beziehung mit seinem Freund anfing, wusste ich nicht. Und Nicholas ist wundervoll, davon bin ich fest überzeugt – anständig, treu, tüchtig. Und er liebt mich.“
Seufzend zupfte sie ein paar Grashalme aus.
„Aber wenn er mich so lieben würde, wie er es behauptet – hätte er mich heute nicht zu euch begleiten müssen? An einem Tag, der so wichtig für mich ist? Während der Vorbereitungen für sein zweites Restaurant hab ich ihn unterstützt, so gut ich es vermochte. Um bei ihm zu sein, sagte ich sogar Termine im Reha-Center ab. Hätte er sein neues Lokal, nur für heute, nicht jemand anderem anvertrauen können?“
Bei dieser Frage wurde ihr bewusst, was sie in erster Linie störte. Nicht nur Nicholas Weigerung, mit ihr den Friedhof zu besuchen, sondern die Opfer, die sie auf sich genommen hatte, um ihn bei der Verwirklichung seines Traums zu unterstützen. Warum vergalt er ihr das nicht? Wenn sie ihm etwas bedeutete – warum war er jetzt nicht bei ihr? Sie verlangte kein tagelanges Engagement, nur seine Nähe in ein paar schweren Stunden.Dass er sie umarmte, an seiner Schulter weinen ließ und ihr bewies, dass er für sie da war, sie nie mehr alleine lassen würde …
Stattdessen fühlte sie sich einsamer denn je.
Die Hände unter dem Kopf verschränkt, streckte sie sich im Gras aus. Und die Tränen begannen zu fließen. Als sie ihre Eltern verloren hatte, war sie fünfundzwanzig gewesen, kaum erwachsen, gewiss nicht bereit für die Verantwortung, das Begräbnis zu planen. So surreal erschien ihr das alles, so unfassbar der plötzliche Verlust. Tabitha, erst einundzwanzig, vom Seelenschmerz überwältigt, konnte ihr nicht helfen. Dankenswerterweise wurde Zienna von Tante Christine und Onkel Ned gerettet, der Schwester und dem Schwager ihrer Mutter, die aus Ohio nach Chicago kamen. Die beiden kümmerten sich um alle Arrangements. Und an jenem grauenhaften, regnerischen Tag hatten sie neben den verwaisten Schwestern gestanden, während die zwei Särge in die feuchte Erde hinabgesenkt wurden.
Die Augen geschlossen, weinte Zienna wie ein kleines Kind, erinnerte sich an alles, was ihr genommen worden war, und wünschte verzweifelt, sie könnte die Zeit
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