Lustakkorde - Ostfrieslandkrimi (German Edition)
ihrem Gutdünken schmieden und formen konnte. Doch war das
Leben keine Bastelstube, in der man schalten und walten konnte, wie man selbst
es für richtig befand. Nein, immer gab es irgendwo jemanden, der ein Interesse
daran hatte, diese Bastelstube Stück für Stück zu demontieren, bis nur noch
unzusammenhängende Fragmente zurückblieben, die für einen Gesamtentwurf nicht
mehr zu gebrauchen waren. In ihrem Fall waren es die Männer gewesen, die ihr
die Lebensgrundlage entzogen hatten, davon war sie fest überzeugt. Nein, sie
wusste es. Sie hatte auch keine Lust mehr zuzuhören, wenn jemand ihr sagte,
dass letztlich doch jeder nur sich selber helfen könne. Alles Ausreden! Denn
sich selber zu helfen hieß doch nichts anderes als Der Stärkere gewinnt .
Und die Stärkeren waren in dieser Gesellschaft doch immer die Männer, so Katharinas
bitteres Fazit. Und das nicht wegen irgendeiner Art der körperlichen oder gar
geistigen Überlegenheit. Nein. Weit gefehlt! Männer waren den Frauen lediglich
in einer Sache überlegen: Sie waren aggressiv, skrupellos und egoistisch. Ohne
Ausnahmen. Jeder einzelne von ihnen. „ALLE, verdammt!“, schrie Katharina mit
schriller Stimme in den Wind hinein. Und ihr Sohn, ihr ach so guter und lieber
Jonathan, der aus lauter Sensibilität und Fürsorglichkeit heraus zuerst schwul
und dann Pastor geworden war, selbst der stellte keine Ausnahme dar. Denn er
hatte einen Menschen umgebracht. Einen jungen Mann. Ben. Den Bruder von Raffael
Winter. So hatte er es ihr völlig aufgelöst erzählt. Und Trost eingefordert.
Pah! Katharina spuckte angewidert ins Watt, das sich vor ihr wie ein endlos
scheinender, im Sonnenlicht sanft schimmernder Teppich ausbreitete und genau
diese Ruhe ausstrahlte, die Katharina in ihrem Leben nie hatte finden dürfen.
Jonathan hatte einen Menschen
umgebracht. Und wer war schuld daran? Natürlich ein Mann. Dieser verdammte
Raffael Winter zerstörte Menschenleben auch noch im Tod. Für einen kurzen
Augenblick hatte Katharina sich eingebildet, dass nach dem Ableben von diesem
Sexmonster alles besser werden würde. Ja, sie hatte sich sogar mit einem
inneren Lächeln dazu beglückwünscht, dass der Musiklehrer zu einem so passenden
Moment aus dem Leben geschieden war. Geschieden worden war, wenn man es genau
nahm. Jetzt wird alles gut! hatte sie sich immer und immer wieder eingeredet.
Wie naiv sie gewesen war!
Wofür eigentlich wurde sie so
hart bestraft? Und wofür wurde Jonathan bestraft? Katharina stieß einen tiefen,
erleichterten Seufzer aus, als es ihr trotz unaufhaltsam zitternder Finger
endlich gelang, eine Zigarette aus der Schachtel zu ziehen und in den Mund zu
stecken. Nun kam die nächste Herausforderung, das Feuerzeug. Zu ihrem Erstaunen
gelang es ihr jedoch bereits beim dritten Versuch, ihm eine Flamme zu
entlocken. Hastig sog sie den Rauch tief in die Lungen. Wie gut es tat! Sie zog
ihren Flachmann aus der Tasche und nahm einen kräftigen Schluck Whiskey. Sie
liebte das Gefühl, wenn er ihr heiß und brennend die Kehle hinunter rann.
Jonathan. Raffael. Magdalena.
Ben. Unablässig kreisten diese Namen durch ihr Hirn und ließen sie nicht zur
Ruhe kommen. Was in alles in der Welt sie geritten hatte, dieser Magdalena
zuhause einen Besuch abzustatten und einen so unangemessenen Auftritt
hinzulegen, das vermochte sie heute nicht mehr zu erklären. Vermutlich hatte
sie dem Mädchen damit jede Menge Ärger bereitet, und genau das hatte sie nicht
gewollt. Eigentlich hatte sie sie nur warnen wollen, vor der Liebe, vor den
Männern, vor der Welt. Ja, für einen kurzen Moment hatte sie sich dazu
auserkoren gefühlt, dieses junge Mädchen, das sich diesem Widerling Raffael so
willenlos und unbedacht hingegeben hatte, davor zu bewahren, sich dem gleichen
beschissenen Schicksal auszuliefern, in dem sie selbst gefangen war. Blöde
Kuh! , schalt sie sich nun selbst. Hast dem Mädchen wahrscheinlich alles
kaputt gemacht! Ganz toll, Katharina! In einem Anfall von Selbstironie
klopfte sie sich anerkennend auf die Schulter.
Katharina ließ ihren Blick über
die weite ostfriesische Landschaft schweifen. Nach Jonathans Geständnis, den
jungen Ben Winter in einem Anfall von überschäumender Wut erwürgt zu haben,
hatte sie in ihrer Wohnung keine Luft mehr bekommen. Ohne noch ein Wort zu
sagen hatte sie die Haustür hinter sich zugeknallt, war ins Auto gesprungen und
an den Deich gefahren. Nun saß sie auf den Steinen direkt am Ufer, irgendwo
zwischen Campen und Pilsum, und
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