Lustnächte
willst, mein Sohn. Immerhin lassen wir den Menschen ihren Glauben trotz unseres Wissens. Er bringt auch viel Gutes. Und wir bewahren die Menschen vor zu viel Macht der Kirche, indem wir dem Vatikan immer wieder vor Augen halten, dass wir seine Existenz jederzeit mit einem einzigen Schlag zerstören könnten. Es gab nie Schwierigkeiten. Jedenfalls nicht bis zu dem Zeitpunkt, als einer der unseren einen gravierenden Fehler machte, indem er das Geheimnis an seine Frau weitergab. Und diese aus reiner Dummheit an einen Priester. Doch glücklicherweise hatRom bis heute nicht erfahren, dass der Schädel Jesu vorübergehend nicht in unserem Besitz war. Wenn auch alle Welt seit Langem nach dem Schatz von Rennes-le-Château suchte, so wusste doch niemand wirklich, worum es sich handelte. Alle suchten nur nach materiellem Reichtum. Aber lasst mich alles von Anfang an erklären. Vielleicht werdet ihr dann besser verstehen … Und bedingungslos bereit sein, zu schweigen.“
Und falls nicht, sind wir so tot, wie alle anderen Mitwisser, die nicht Mitglied des Ordens von Sion waren, dachte Pierre gereizt. Es missfiel ihm, der Spielball dieses Ordens zu sein.
„Sieh nicht so verkniffen drein, mein Sohn. Erachte es als Privileg, in unser Geheimnis eingeweiht zu werden. Alles, was du tun musst, ist zu schweigen. Abbé Saunière hat sehr lange und sehr gut damit gelebt.“
„Weil ihr bis zu seinem Ende gehofft habt, dass er euch diesen wertvollen Schädel und die Dokumente aushändigt. Es ist euch nicht gelungen, daranzukommen. Sonst hättet ihr auch ihn ganz schnell aus dem Weg geschafft. Und ich glaube, das habt ihr am Schluss auch getan.“
Der Abt lächelte noch immer sein gütiges Lächeln. Falsch und verlogen. Pierre konnte seine Wut kaum bändigen.
„Hier irrst du. Natürlich haben wir versucht, unseren Besitz zurückzubekommen, nachdem er ihn gefunden hatte. Aber die Möglichkeit dazu hatten wir natürlich nur, solange er lebte. Nach seinem Tod haben wir diese Chance verloren, wie du dir gewiss vorstellen kannst.“
„Also ist er eines natürlichen Todes gestorben?“
„Aber ja.“
„Und wieso hat seine Haushälterin den Sarg schon Tage vor seinem Tod bestellt?“
„Es handelt sich hier lediglich um einen Schreibfehler auf der Rechnung. Es steht dir frei, das zu glauben oder nicht. Doch lasst mich am Anfang beginnen.“ Der Abt setzte sich in seinen Sessel, umfasste die Lehnen mit seinen faltigen, blauadrigen Händen und schloss die Augen, als müsste er sich erst sammeln.
„Yeshua Ben David – Jesus – hat gelebt und wurde gekreuzigt. Allerdings war er nicht der Sohn Gottes. Das hat er auch nie behauptet. Er war ein Mensch wie ihr und ich. Gekreuzigt wurde er wegen seiner politischen Umtriebe gegen die Römer und ihre Verbündeten. Mit Verbündeten meine ich Herodes und seinen Clan. Jesus kämpfte für eine freie und geeinte jüdische Nation, der es freistand, ihren Gott auf ihre eigene Weise zu verehren. Frei vonden römischen Besatzern. Und frei von den Herodianern.“
Beatrix unterbrach den Abt.
„Aber war Herodes nicht Jude? Genau wie Jesus. Ich verstehe nicht ganz …“
„Das war er nicht. Vielleicht kann Jean-Luc dir die politische Lage jener Zeit etwas genauer erläutern?“, sagte der Abt mit einem fragenden Blick zu diesem hin.
„Nun, es ist etwas verzwickt“, begann Jean-Luc. „Erst einmal waren da die Seleukiden, eine mächtige Königsdynastie, die von Generälen Alexander des Großen abstammten. Griechen, wie er. Einer dieser Generäle war Ptolemäus, der Ägypten übernommen hat, ein anderer Seleukus, dessen Nachkommen jahrhundertelang in Sizilien und Kleinasien herrschten. Herodes stammt von Letzterem ab. Sein Sohn war Herodes Antipas. Seine Sippe nannte sich Herodianer und die Juden, allen voran die fanatischen Zeloten, verachteten sie als unreine, nicht jüdische Rasse. Doch die größte Sünde, die Herodes in ihren Augen beging, war die, dass er die makkabäischen Tempelpriester durch seine eigenen ersetzte, die Pharisäer. Für gläubige Juden eine Gotteslästerung. Die Herodianer unter Herodes Antipas waren an der Macht. Mit den Römern als Verbündete im Rücken. Auf der Gegenseite standen Hebräer und Juden, die sich aus Hunderten kleiner Sekten zusammengeschlossen hatten. Diese Bewegung wurde von den Herodianern und Pharisäern als kriegstreibend betrachtet. Es war in erster Linie ein Kampf der Klassen. Die, die nichts hatten gegen die, die alles hatten. Für die mittellosen
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