Lustnebel
missgünstiger Beobachter oder ein unglücklicher Zwischenfall konnte ausreichen und der Mob rottete sich vor den Toren Barnard Halls zusammen.
Rowena fühlte Unsicherheit in sich aufkeimen. Ein rudimentärer, uralter Instinkt erwachte in ihr und schrie ihr zu, zu fliehen, um sich in Sicherheit zu bringen vor den Dingen, die sie nicht verstand. Sie unterdrückte ihre Emotionen. Als intelligenter Mensch sollte sie nicht dem abergläubischen Gewäsch tumber Dorfbewohner Vertrauen schenken!
Sie reichte dem Dorfpfarrer die Hand und verabschiedete sich, um die Kutsche zu besteigen.
Rowena ließ sich in die Polster sinken und zog sich die Handschuhe aus. Düster starrte sie aus dem Fenster. Kein Wunder, dass die Menschen bei ihrer Ankunft so seltsam reagiert hatten, wenn man Chayton solche Vorurteile entgegenbrachte. Sie stieß einen frustrierten Laut aus. Sie würde nicht aufgeben, es musste doch möglich sein, jemanden hier im Dorf nach Barnard Hall zu locken. Als die Kutsche am Gasthaus vorbeifuhr, schoss ihr eine Idee durch den Kopf.
„Pete, halte an! Ich will in das Gasthaus“, wies sie den Kutscher an.
Verwirrt half er ihr wenig später, aus dem Innern der Equipage zu klettern.
„Mylady, was habt Ihr vor?“ Pete, ein hochgewachsener, beleibter Mann mit leuchtend roter Nase, schlug die Tür hinter Rowena zu.
Sie zupfte ihre Handschuhe zurecht. „Der Pfarrer war mir keine Hilfe. Ich werde die Leute selbst fragen. Und wo trifft man abseits der Sonntagsmesse die meisten arbeitsfähigen Menschen? Im Gasthaus“, erörterte Rowena ihre Gedankengänge.
Besorgt folgte ihr Pete. „Ich begleite Euch, Mylady, das Wirtshaus ist wahrhaft kein Ort für eine feine Dame, noch dazu ohne männlichen Schutz!“
Rowena schmunzelte. „Vielen Dank, Pete.“
Sie stieß die Tür zum Pub auf, und eine Mischung aus abgestandener Luft, schalem Bier, Zwiebeln, Braten und ungewaschenen Körpern schlug ihr entgegen. Wildes Stimmengewirr wie das Summen in einem Bienenstock hüllte sie ein, bis zu dem Moment, als man sie erkannte. Schlagartig verstummten die Gespräche.
Der Wirt, ein kahlköpfiger, kleiner Mann mit feingliedrigen Fingern, eilte auf sie zu.
„Lady Windermere, welche Überraschung! Was für eine Ehre, Euch in meinem bescheidenen Etablissement begrüßen zu dürfen“, schwärmte er. Doch seine Augen verrieten, dass er nicht erfreut war, jemanden in seinem Wirtshaus zu empfangen, der zu den Ausgestoßenen des Ortes zählte. Doch sie war die Marchioness, und sie hinauszuwerfen, würde er nicht wagen. Das traute sich niemand.
Rowena machte eine dankende Handbewegung. „Ich möchte nur eine kurze Ankündigung machen. Ich suche Arbeitskräfte, Männer und Frauen, die mir dabei helfen, Barnard Hall herzurichten“, erklärte sie. Sie ließ ihren Blick in die Runde schweifen. Die Männer, die an der Theke saßen, hatten ihr den Rücken zugewandt und beachteten sie nicht weiter. Die Leute an den Tischen reagierten völlig unterschiedlich: Einige starrten auf ihre Getränke oder ihr Gegenüber, andere wiederum fixierten Rowena teils verächtlich, neugierig und ängstlich. An einem der hinteren Tische hob ein Rothaariger seinen Humpen und trank einen kräftigen Schluck, ehe er seinen Krug auf die Holzplatte vor sich donnerte, sodass Bier über den Rand schwappte.
„Zum Dämonenlord?“, schnaubte er und funkelte Rowena aus berechnenden, blauen Augen an.
„Lord Windermere“, korrigierte sie ihn ruhig. „Wir bieten euch eine warme Mahlzeit und den üblichen Lohn. Außerdem eine Erfolgsprämie nach Ende der Arbeiten.“
Sie zögerte, doch ein erneutes Überblicken der Anwesenden verriet ihr, dass es geschickter wäre, sich zurückzuziehen. Also nickte sie den Leuten zu, verabschiedete sich vom Wirt und ging.
Pete folgte ihr wie ein treues Hündchen und half ihr beim Einsteigen.
„Wünscht Ihr, nach Barnard Hall zurückzukehren, Mylady?“
Rowena verneinte. „Nach Finsthworth, vielleicht haben wir dort mehr Glück.“ Als der Kutscher die Tür geschlossen hatte, verzog sie das Gesicht. Wenn man im Dorf kein Interesse wegen der Gerüchte hatte, wäre in der Kleinstadt wohl die größere Entfernung der Grund, aus dem sie unverrichteter Dinge nach Barnard Hall zurückkehren würde.
Draußen glitt die Landschaft vorüber. Hohe Hecken und Bäume säumten die Uferstraße. Immer wieder gaben Löcher im grünen Sichtwall Blicke auf das tiefblaue Wasser des Lake Windermere frei. Die Aussicht war wunderschön, das
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