Lustnebel
Smaragdgrün, das Lapislazuliblau gepaart mit hämatitschwarzem Felsgestein konnte den Beobachter der Szenerie trunken machen. Ein Rhododendron, dessen Blütenköpfe zur vollen Blüte explodiert waren und nun die Zweige mit ihrem Dunkelrot zierten, zog Rowenas Aufmerksamkeit auf sich, vor allem, da daneben sonnengelbe Fuchsien wuchsen. Unwillkürlich lächelte sie. Sollte es nicht möglich sein, in einer solch prächtigen Umgebung ein schönes Leben zu führen?
In der Ferne erhoben sich die Berge, grün bewachsene und kahle, schwarze Felsen wechselten sich mit bräunlichen Gipfeln ab. Weiße Adern zogen sich bei manchen bis ins Tal hinab, und auf den näher gelegenen bewegten sich helle Punkte über die Hänge. Vermutlich Schafe auf der Suche nach Futter.
Rowena lehnte sich zurück. Mittlerweile lag der Lake Windermere hinter ihnen, und sie kutschierten an einer Schlucht entlang. Nebelschwaden krochen über die Bergrücken wie lebendige Wesen. Raubtiere aus Dampf, die auf ihre Opfer lauerten, hinabschlichen und ihre Beute erbarmungslos einkreisten. Am Ende der Schlucht stand ein schiefergraues Landhaus mit weißen Sprossenfenstern. Eine Hauswand war mit Efeu überwuchert, und am Sockel wuchsen Blumen, vermutlich Rosen. Obwohl in der entgegengesetzten Richtung zum Dorf Blawith Tower gelegen, mussten dies ihre nächstgelegenen Nachbarn sein. Interessiert musterte Rowena die direkte Umgebung. Der Weg dorthin führte über das Moor. Ein ordentliches Stück Fußmarsch, doch wenn die Leute dort nett waren, nahm Rowena die Anstrengung gerne in Kauf, um sie zu besuchen. Ohnehin schienen Wanderungen die einzige Freizeitbeschäftigung zu sein, derer sie frönen konnte, wollte sie nicht die ganze Zeit im Haus verbringen. Aber auf diese Art konnte sie ihre Londoner Angewohnheit, lange Morgenspaziergänge zu unternehmen, auch am Lake Windermere fortsetzen.
Das Landhaus wirkte unbewohnt. Zweifelnd blickte Rowena hinunter. Die Fenster erwiesen sich als dunkel und abweisend. Es gab keine Vorhänge. Lebte überhaupt jemand in dem Haus? Allein die Rauchsäule erweckte den Eindruck von Bewohnern.
Die Droschke setzte ihren Weg unverdrossen fort. Gelegentlich hörte Rowena über den Lärm der Räder, die über die unebene Straße rollten, das Schnauben und das Hufgetrampel der Pferde. Einige Male gerieten sie in Schlaglöcher, worauf Rowena durchgeschüttelt wurde oder gegen die Wände stieß.
Endlich erreichten sie das Städtchen Finsthworth.
Größer und sauberer machte der Ort einen guten Eindruck auf Rowena und ließ in ihr die Hoffnung keimen, es gäbe keine Probleme, hier Arbeiter und Dienstboten zu finden. Auch schienen die Leute keine Vorbehalte gegen die Windermeres zu kennen, denn man grüßte sie höflich. Der Kutscher setzte sie bei einem kleinen Warenhaus ab. Die Auslagen verrieten, dass man dort von Bartwichse bis hin zu Pflugscharen alles erstehen konnte, was ein ländlicher Haushalt benötigte.
Sie trat ein und wäre beinahe mit einer streng wirkenden Blondine zusammengestoßen. Die Unbekannte erwies sich für eine Frau als ungewöhnlich groß und ihr Hut reichlich extravagant für ein Städtchen wie Finsthworth. Doch als sie Rowena ansah, lächelte sie breit, so, als hätte sie eine lange verloren geglaubte Freundin wiederentdeckt.
Verwirrt nickte ihr Rowena zu. Die Blonde blinzelte und erwiderte die Geste.
„Verzeiht meine aufdringliche Neugier. Kennen wir uns?“ Die Frau musterte Rowena aufmerksam.
„Ich fürchte, nein. Ich kann mich nicht erinnern“, gestand Rowena.
Die andere lachte einen Tick zu laut, als es schicklich gewesen wäre.
„Vielleicht hilft es uns weiter, wenn wir einander vorstellen? Mein Name ist Alice Cuthbert. Genauer gesagt, Mrs. Alice Cuthbert“, entgegnete sie.
„Rowena Bannister, Marchioness of Windermere.”
Alice lächelte. „Nein, was für ein glücklicher Zufall! Ihr seid Charles Bannisters frisch angetraute Gattin. Ich habe von der Hochzeit des Marquess of Windermere gelesen.“ Ihr Lächeln verbreiterte sich.
„Chayton“, verbesserte Rowena die Blondine. Etwas an Alice weckte ein leises Magengrollen. „Chayton Bannister.“
Verwirrt blinzelte Alice ein paarmal, ehe sie lachte. „Natürlich, Chayton. Wie gefällt Euch der Lake District?“
„Soweit ich es bisher beurteilen kann, eine sehr ansprechende Gegend. Ein Paradies für ausgedehnte Spaziergänge“, erwiderte Rowena.
„Allerdings“, pflichtete ihr Alice bei. „Ihr kennt den Lake District nicht, ehe
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