Lustnebel
Silbermaske und Turnbull? Er hatte ihr Bett so oft besucht, sie kannte seinen Geruch, seinen Geschmack, wusste, wie er sich bewegte und wie es aussah, wenn sich seine Muskeln spannten. Nein, er konnte doch nicht der Frauenmörder sein, konnte nicht identisch mit Silbermaske sein.
Aber da war noch diese Sache mit dem Namen, ein Detail, über das sie zuvor nie nachgedacht hatte: Turnbull hatte Chayton wiederholt Lucien genannt.
Bei Rowenas Besuch im Hellfire Club hatte man sie angewiesen, falsche Namen zu verwenden. Wollte Turnbull damit auf Chaytons Besuche dort aufmerksam machen? Stand Chayton in irgendeiner Weise in Verbindung mit dem Club? Das allein konnte sie ihm nicht zum Vorwurf machen. Auch sie war dort gewesen, ihn deshalb zu verurteilen, wäre heuchlerisch. Das Gesamtbild, das sich aus den Puzzlestücken ergeben mochte, beunruhigte sie weit mehr.
Die ermordete Dienerin war von einem Mann mit abgewetzten Schuhen niedergeritten worden. Chaytons Schuhe hatten Ähnlichkeit mit denen des Mörders.
Rowena durchzuckte kalte Angst. Hatte Chayton die Heirat forciert, um sie greifbar zu haben? Er brachte sie ohne zu zögern in ein abgelegenes Herrenhaus. Ideal, um sie aus dem Weg zu räumen.
Ihr Herz hämmerte. Er benahm sich immer wieder fürsorglich und großzügig. Überhaupt nicht wie ein hinterhältiger Zeitgenosse.
Ihre Überlegungen schlugen völlig andere Bahnen ein. Auch wenn ihr Urinstinkt immer wieder vor Chayton warnte, so sagte Rowenas Verstand, dass er keine Gefahr sein konnte. Keine Bedrohung sein durfte. Würde sie nicht spüren, wenn ihr eigener Ehemann einen ruchlosen Charakter besaß? Wo sie sich ihm am empfindlichsten zeigte, nackt, lustvoll und er diese Verletzlichkeit nie ausnutzte?
Der Gedanke an seine goldbronzene Haut, an den Duft seiner Haut und die Empfindung seiner Lippen auf ihren, ließen sie wollüstig zittern.
Sie könnte nach ihrer Ankunft auf Barnard Hall zu ihm gehen und seine Lust wecken. Was geschähe, wenn sie so verrucht wäre und ihn verführte? So wie an jenem Tag, als er sie eingesperrt hatte. Es hatte sie beide über die Maßen erregt. Würde auch ein zweites Mal die Lust so sehr in ihr kochen?
Sie blickte aus dem Fenster und wurde zeitgleich von der Kutsche durchgeschüttelt. Sie keuchte lustvoll und frustriert gleichermaßen. Heißes Begehren brandete in ihr auf.
Chayton nach ihrer Heimkehr aufzusuchen und zu verführen, war ein gewagter Gedanke, doch wie oft hatte er selbst genau das getan? Sie seiner Aufmerksamkeit nicht für Wert befunden und sich dann, wenn es ihn überkam, genommen, wonach er gierte? Nicht gänzlich gegen ihren Willen, doch stets, wie es ihm in den Kram passte.
Je länger sie darüber nachdachte, je heftiger die Begierde in ihr brodelte, desto entschlossener war sie, den Spieß umzudrehen. Sich ein einziges Mal zu nehmen, wonach es sie verlangte. Sie biss sich auf die Lippen und entspann ein Szenario, das ihr helfen würde, Chayton zu überwältigen. Ihn nur ein Mal seine eigene Medizin kosten lassen.
Als sie die Halle von Barnard Hall betrat, fühlte sie sich beschwingt und gleichgültig gegenüber des allgegenwärtigen Staubs und Drecks.
Cain eilte ihr entgegen und nahm ihr Schute, Handschuhe und Cape ab. „Darf ich fragen, ob Ihr erfolgreich wart?“
„Du darfst“, erwiderte Rowena gut gelaunt. „In Blawith Tower wies man mich schnöde ab, also fuhr ich nach Finsthworth.“
Cain nickte und wartete mit großen Kuhaugen auf die Fortsetzung des Berichts. „Die Krämerin, Mrs. Tiparnay, war mehr als hilfsbereit. Wenn mich nicht alles täuscht, sind die Menschen in dem Städtchen nicht halb so verbohrt wie die Dorfbewohner.“ Rowena strich sich über das Haar. „Könntest du mir Tee und Gebäck auf mein Zimmer bringen? Und wo hält sich Lord Windermere auf?“
„Seine Lordschaft ist zu Stott Parkes Bobbin Mill geritten.“
Rowena runzelte die Stirn, worauf sich Cain bemüßigt fühlte zu erklären: „Die Parkes fertigen Garnspulen für fast die gesamte Textilindustrie in Manchester.“
„Und was hat mein Gatte dort zu schaffen?“
„Soweit er mir mitteilte, folgt er der Einladung von Mr. Parke.“
Rowena nickte und wandte sie ab. „Ich bin auf meinem Zimmer. Denk an meinen Tee und das Gebäck.“
Rowena stand mit ihrer Teetasse am Fenster und blickte hinaus.
„Nebel, ständig dieser Nebel“, stöhnte sie und trank einen Schluck.
Aus dem Gehölz am Rande des Anwesens kräuselte sich weißer Dunst wie dicker Rauch.
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